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Samstag, 22. Mai 2021

Wikipedia und historisches Wissen

In diesem Beitrag stellt Tanja Achtelik folgenden Aufsatz vor:

Engelmann, Jan (2012): Prinzipiell unabschließbar. Wikipedia und der veränderte Umgang mit (historischem) Wissen; in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9, 2/2012, S. 286-292, online unter: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2012/4465,
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1592,

Die vielen Aufrufe und Nutzer von Wikipedia seien ein Zeichen dafür, so Engelmann, dass es einen hohen Bedarf „für einen freien Zugang zu strukturierten Informationen gibt“ (S. 286). Das Editieren verläuft anonym durch unterschiedliche Personen mit verschiedenen Interessen und Expertisen. Es wird von einer „Weisheit der Menge“ gesprochen, welche eine immer wiederkehrende kollektive Plausibilitätsprüfung in Gang setze – einen „Kampf um den Status der Wahrheit“ (S. 286).

Dieses Open-Content-System bringe jedoch nicht nur Expertise, sondern ermögliche es Akteuren auch, willkürlich Fehlinformationen oder zu ihren Gunsten Eigenwerbung einzubringen. Die beteiligten Akteure seien permanent „in Statuskämpfe und dynamische Konflikte um Deutungsmacht verstrickt“ (S. 287).

„So werde deutlich, dass in den Wissenskonstitutionsprozessen eines Wikipedia-Artikels diskursive Regime wirksam sind, mittels derer zum einen Aussagen auf ihre Plausibilität und Akzeptabilität hin überprüft, angenommen oder verworfen und zum anderen die äußernden Subjekte bestätigt, diszipliniert und gegebenenfalls ausgeschlossen werden “ (S. 287).

Forscher, welche ihre Erkenntnisse anhand von Primärtexten auf Wikipedia teilen, werden aufgrund der Übermacht von bereits veröffentlichter Sekundärliteratur zur selben Thematik verdrängt.

„‚Den‘ isolierten Primärtext gibt es eigentlich nicht mehr; er ist immer schon mit verwandten und benachbarten Texten verwoben“ (S. 288).

Durch die Querverweise der Texte werden auch Wissenslücken aufgezeigt. Die Begriffe, welche keine eigenen Lemmata haben, werden rot hinterlegt. Dies verdeutlicht, welches Wissen noch unvollständig und ein „Work in Progress“ ist. Der exponentielle Anstieg an Informationen lasse sich nur mit einem „dynamischen ‚Aufschreibesystem‘“ (S. 288), wie es Wikipedia ist, festhalten.

Gedruckte Enzyklopädien seien obsolet geworden. Der Historiker Peter Haber sieht in Wikipedia die Möglichkeit eines „interkulturellen Vergleichs, der durch die abweichenden Perspektiven auf ein Thema in den unterschiedlichen Sprachversionen gegeben [sei]“ (S. 289). Vor allem Ereignis- sowie Personenartikel hätten ein strukturelles Muster für eine Anfälligkeit von „nationale[r] Einfärbung“ (S. 289).

Wikipedia solle vor allem für Wissenschaftler:innen einen größeren Reiz bieten. Während es in Deutschland als verpönt gilt, „sich auf das Niveau einer allgemein verständlichen Enzyklopädie herabzubegeben“ (S. 290), so ist es beispielsweise in den USA an renommierten Universitäten ein Bestandteil der Lehrveranstaltungen, das Schreiben von Wikipedia-Artikeln zu lernen.

„Zum einen kann damit die Qualität der erstellten Artikel gesteigert werden, zum anderen werden die Fertigkeit des verständlichen Schreibens und die mediale Kompetenz trainiert“. (S.290)

Engelmann sieht vor allem eine differenzierte Wahrnehmung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaften würden von einer schnellen Verbreitung ihrer Ergebnisse profitieren, während die Geisteswissenschaften auf den „verlangsamten und abgeschlossenen Veröffentlichungsprozess“ (S. 291) setzten und persönlichkeitsrechtliche Bedenken äußerten. Vor allem die Geschichtswissenschaften könnten als „kritischer Beobachter für die neuen Formen der Wissensaggregation“ (S. 291) agieren. So könnte durch Wikipedia „auf die eigenen methodischen Schwächen und wissenschaftstheoretischen Kurzsichtigkeiten hingewiesen […] werden“ (S. 292).

Als Gefahr sehe der Historiker Haber, dass eigentlich neutrale Standpunkte auf Wikipedia eine „überproportionale Wichtigkeit“ eingeräumt würde, welche in der „historiographischen Praxis als längst überwunden“ (S. 292) gelten. Als Lösung zur Qualitätsverbesserung gebe es ein EU-gefördertes Projekt, welches an einem computer-linguistischen Werkzeug arbeite, um eine Qualitätsbeurteilung von Wikipedia-Inhalten durchführen zu können.

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