Seiten

Mittwoch, 15. März 2017

Politische Blogs und ihr Einfluss auf die Gesellschaft

Was ist für uns selbstverständlich?

Selbstverständlich ist, dass die Erde eine Kugel ist. Selbstverständlich ist auch, dass man als Frau studieren und Auto fahren darf. Es ist auch selbstverständlich, dass Religionen gleichgestellt sind und dass man sich von seiner Religion trennen kann, wenn man es möchte. Außerdem ist es selbstverständlich, dass jeder seine Meinung frei äußern kann, ohne politische Verfolgung fürchten zu müssen… oder?

Ich kann das leicht behaupten, in meinem Zimmer mit freiem Internetzugang. Hier in Deutschland, wo das Grundgesetz die Verfassung ist und nicht eine heilige Schrift. Doch was für mich und für die westliche Welt selbstverständlich ist, ist woanders auf der Welt ein Verbrechen. In Saudi-Arabien zum Beispiel, wo die Zeit scheinbar im Mittelalter stehengeblieben ist: Wo Wissenschaftler als Ketzer abgetan werden, Frauen Gegenständen gleichgestellt sind, wo Religion über allem steht und wo man um sein Leben fürchten muss, wenn man eine politische Diskussion anfängt. Kann man in so einem Land überhaupt frei denken? Wie bildet man sich seine Meinung und wo kann man diese äußern?


Meinungsäußerung im Web 2.0

Das Internet bietet diese Möglichkeiten, vorausgesetzt natürlich, dass es nicht zensiert wird. Über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter kann jeder seine Meinung leicht äußern – man braucht dafür keine besondere Qualifikation, und jeder darf schreiben, was er denkt, solange er nicht die Rechte eines anderen verletzt.

Wenn man sich allerdings etwas mehr für ein Thema interessiert, sich einarbeitet und auch einen gewissen Anspruch an seine Argumentation hat, fängt man vielleicht an, einen Blog zu schreiben. Dann kommen Leser hinzu, diese kommentieren, es entstehen Diskussionen und die Plattform wächst. So kann man seine Meinung frei äußern, auf Menschen mit ähnlichen Ansichten treffen und sogar die Gesellschaft beeinflussen. Es kann sein, dass die Plattform so weit wächst, dass die großen Medien darauf aufmerksam werden oder dass man für seinen Blog einen Preis gewinnt. In demokratischen Ländern zumindest. In Diktaturen kann es sein, dass die Polizei oder Geheimdienste darauf aufmerksam werden, und dann muss man für seinen Blog einen Preis bezahlen – oft ist es die Freiheit, manchmal sogar das Leben.

Diese Arbeit behandelt das Thema politische Blogs und ihren Einfluss in der Gesellschaft. Besonders interessant ist das in Bezug auf Länder mit Zensur: Schafft man es mithilfe eines Blogs, liberales Gedankengut in eine religiös dominierte Gesellschaft zu bringen? Und was riskiert man dabei? 

Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit Blogs im Allgemeinen: Welche Arten von Blogs es gibt, wie viele es gibt und welchen Einfluss man dadurch gewinnen kann. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich dann mit Blogs in Ländern ohne Meinungsfreiheit. Das möchte ich an einem sehr prägnanten Beispiel festmachen: An Raif Badawi, einem Blogger, der zu umgerechnet knapp 195.000 Euro Strafe, zehn Jahren Haft, mit anschließenden zehn Jahren Reiseverbot, und tausend Peitschenhieben verurteilt wurde, weil er seine Meinung geäußert hat und ein Forum geschaffen hat, in dem man sich über Politik und Religion austauschen konnte (amnesty.de, 2015).


Allgemeines zu Blogs und Bloggern

Da in dem ebenfalls auf diesem Blog veröffentlichten Beitrag „Neue Perspektiven durch Bloggen im Schulalltag?“ der Blog-Begriff sehr ausführlich erklärt wird, möchte ich ihn an dieser Stelle nur kurz definieren. Der Begriff Blog ist eine Abkürzung von Weblog und ein essentieller Bestandteil des Web 2.0. Es ist eine Art Tagebuch im Internet, bei dem die Beiträge in chronologischer Reihenfolge dargestellt werden.

Blogs werden ständig aktualisiert (sind deshalb praktischer als Webseiten) und bieten durch die Kommentier-Funktion die Möglichkeit zum direkten Austausch (vgl. wirtschaftslexikon.gabler.de). Blogs befassen sich meistens mit einem Themengebiet. Dieses Blog thematisiert beispielsweise das Internet, Web 2.0, Medienkompetenz und digitale Bildung.

Momentan beliebt sind vor allem Food-Blogs, wie Ina is(s)t, Fashion-Blogs wie Josie Loves Fashion oder Fitness-Blogs wie Julie Feels Good. Bloggen kann man zu jedem Thema: Politik, Wirtschaft, Umwelt, Musik, Filme, Fotografie …

Dementsprechend gibt es weltweit auch viele Blogger, eine genaue Anzahl ist schwer bestimmbar. Die Süddeutsche nennt im Artikel „Als Blogger starten: Die passende Plattform finden“ WordPress, Blogger und Tumblr als die größten Plattformen.

Zahlen zu Blogger.com werden auf der Homepage nicht veröffentlicht. WordPress gibt an, dass sich monatlich 409 Millionen Menschen über 22 Milliarden Seiten anschauen (vgl. wordpress.com, 2017). Tumblr gibt an, dass es auf der Seite am 6. März 2017 338,5 Millionen Blogs und 146,4 Milliarden Einträge gibt (vgl. tumblr.com, 2017).

Da die Messverfahren unterschiedlich sind und Nutzerzahlen teilweise überhaupt nicht veröffentlicht werden, ist es sehr schwierig einzuschätzen, wie viele Menschen tatsächlich – und vor allem auch regelmäßig – bloggen.


Blogger als "Fackelträger des digitalen Zeitalters"
(Moorstedt, 2008, S. 112) 

Dass eine große Menge im politischen Bereich bereits 2008 erfolgreich bloggte, beschreibt Tobias Moorstedt in seinem Buch „Jeffersons Erben. Wie die digitalen Medien die Politik verändern“. Dabei betont er, dass Blogs hauptsächlich aus privaten Gründen gestartet werden:  
„Kaum ein Blog wird als Alternative zu den Massenmedien oder mit dem Ziel gestartet, eine globale Öffentlichkeit zu erreichen“ (ebd., S. 107). 
Dennoch hat jedes Blog das Potential, dies zumindest zu erreichen und manche Blogger (sogenannte „A-List-Blogger“) kann man mit Chefredakteuren von Print-Medien vergleichen, schreibt Moorstedt. Einflussreiche Blogger gelten in den USA als „gatekeeper“ und nehmen so als Meinungsführer wesentlich am Meinungsbildungsprozess der Bürger teil. Denn diese wollen sich nicht nur durch Tageszeitungen und Nachrichtensendungen informieren, sondern auch durch unabhängige Blogs.

Laut Moorstedt gibt es an dieser Stelle allerdings viel Kritik von Journalisten, weil Blogger lediglich – und dabei zitiert er den Chefredakteur der New York Times – „die Nachrichten recyclen und wiederkäuen“ (ebd., S. 108). Das trifft bestimmt auf einige Blogger zu, aber Moorstedt nennt auch Fälle, bei denen Blogger durch eigene Recherchen in ihren Beiträgen Agenda-Setting betrieben haben:

Ein amerikanischer Blogger hatte beispielsweise einen Skandal der Bush-Regierung aus dem Jahr 2006 im Zusammenhang mit der Entlassung von unbeliebten Staatsanwälten aufgedeckt, was dazu führte, dass der verantwortliche Justizminister zurücktreten musste. Dies gelang dem Blogger aber nur mit der Hilfe seiner Leser, die in Behörden und Firmen arbeiteten und ihn so mit zusätzlichen Informationen versorgen konnten. Es war also eine Zusammenarbeit von Autor und Leser, die letztendlich auch mit einem wichtigen Journalisten-Preis belohnt wurde (vgl. ebd., S. 108f.).

Bei einem anderen Fall im Jahr 2005 arbeiteten mehrere Blogger zusammen, um beim Wahlkampf einen Kandidaten der Demokraten zu unterstützen. Da die Aussichten, gegen die Republikaner zu gewinnen, sehr schlecht waren, bekam der Kandidat kaum Unterstützung von seiner eigenen Partei. Lokale Blogs schrieben daraufhin Artikel, verfassten Porträts und bekamen so Aufmerksamkeit und Unterstützung von nationalen Blogs und Webseiten. Am Ende hatten die Aktivisten 500 000 Dollar gesammelt und der Kandidat verlor sehr knapp mit nur 3,5% (vgl. ebd., S. 117).

Wie man an diesen zwei Beispielen sehen kann, können Blogger durchaus einen großen Einfluss in der Öffentlichkeit gewinnen und Veränderungen herbeiführen. Man muss allerdings betonen, dass dies in beiden Fällen nur möglich war, weil eine Gruppe sich gefunden und zusammengearbeitet hat, und so Unterstützung von mehreren Seiten bekommen hat. Voraussetzungen dafür sind zum einen, dass in der Gesellschaft genügend Interesse vorhanden ist, und zum anderen, dass die Verfassung den Bürgern diese Rechte und Möglichkeiten einräumt. In Amerika ist dies der Fall, in Saudi-Arabien hingegen nicht. 


Freiheit für Raif Badawi 
„Die menschenverachtende Politik des saudischen Regimes und seine Folterpraxis prangerte Amnesty natürlich schon lange an […]. Nur: Solange man die Ungerechtigkeit nicht an einem konkreten Schicksal deutlich machen konnte, interessierte sich niemand […] dafür. Raifs Schicksal lieferte insofern ein höchst willkommenes Beispiel, weil es das Unrecht plastisch werden ließ.“ (Haidar, Hoffmann 2015, S.220)
Seit 2012 sitzt Badawi wegen seines Blogs in Haft, an einem Ort mit „Mördern, Dieben, Drogenhändlern bis hin zu Kindervergewaltigern“ (Schreiber, Badawi 2015, S. 15), schreibt er selbst im Vorwort aus dem Gefängnis.

Nachdem am 7. Mai 2014 das Urteil gegen Raif Badawi verkündet wurde (wie oben bereits genannt: 195.000 Euro Strafe, zehn Jahre Haft, zehn Jahre Reiseverbot und 1000 Peitschenhiebe), gingen seine Frau Ensaf Haidar und Amnesty International mit dem Thema an die Öffentlichkeit. Was darauf folgte, war weltweite Anteilnahme. In ganz Europa und global gingen Menschen auf die Straße. Journalisten von überall berichteten über den Fall. Spitzenpolitiker setzten sich persönlich für Raif Badawi ein. Amnesty International startete am 3. Dezember 2014 mit folgendem Video den Briefmarathon.



Man konnte in diesem Zeitraum Briefe verfassen, in denen man den Betroffenen seine Solidarität aussprach und sich an die jeweiligen Regierungen wandte.

Zwar wurde Badawis Strafe nicht ausgesetzt, erfolglos waren die ganzen Mühen trotzdem nicht: Nach der ersten Auspeitschung am 9. Januar 2015 kamen bis heute keine weiteren dazu. Constantin Schreiber (Herausgeber des Buches „1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke", welches die Texte von Badawi enthält) meinte in einem Interview dazu, dass sie nur deshalb vorerst verhindert werden konnten, weil der internationale Aufschrei so groß war.

Für seinen Mut erhielt Badawi im Jahr 2015 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, der von der EU verliehen wird (spiegel.de, 2015). 2015 haben Ensaf Haidar und Constantin Schreiber den Raif Badawi Award ins Leben gerufen. Er wird Journalisten in der islamischen Welt verliehen, die sich besonders für Meinungsfreiheit einsetzen. Zudem soll er auch jährlich an Raif Badawi erinnern (freiheit.org, 2016). Doch was ist die Geschichte von Raif Badawi? Was hat er geschrieben und warum war der Aufschrei so groß?


Das Netzwerk saudischer Liberaler und seine Gegner
„Er hatte die Absicht, eine Plattform zu schaffen, einen Raum zu schaffen, um über Menschenrechte und Probleme zu sprechen. Er wollte es den Leuten ermöglichen, frei ihre Meinung zu äußern. Raif denkt und handelt frei und er mag es, wenn Leute frei handeln, denken und entscheiden können – die Webseite sollte ein Anfang sein.“, sagt Ensaf Haidar in einem Interview mit Amnesty International (blog.amnesty.de, 2015).
Bei der Website handelte es sich um das Forum „Netzwerk saudischer Liberaler“. Gründer und Herausgeber war Badawi selbst sowie ein befreundeter Arzt. Gegründet wurde es Ende 2005, wie Ensaf Haidar schreibt. Sie berichtet, dass man nur über einen Account Zugriff zum Forum erhalten hatte. Dort gab es viele Artikel (nicht nur von Badawi persönlich, sondern auch von anderen Nutzern geschrieben) zum Thema Religion, Menschen- und Frauenrechten und zur Gesellschaft in Saudi-Arabien. Unter den Artikeln konnte man frei diskutieren, sodass sehr häufig Diskussionen zustande kamen. Insgesamt ging das Forum in eine liberale, weltoffene Richtung.

Das sagte der Religionspolizei allerdings überhaupt nicht zu (vgl. Haidar, Hoffmann 2015, S. 80 f.). Das Königshaus tolerierte die Seite, denn in Saudi-Arabien gab es kein Gesetz, dass die Gründung einer Website verbat. Solange der König nicht kritisiert wurde und die Bürger einen Ort hatten, an dem sie „ein wenig Dampf ablassen konnten“ (ebd., S. 92), ohne für große Unruhe in der Bevölkerung zu sorgen, war das in Ordnung.

Das religiöse Lager der Regierung und die Religionspolizei sahen das anders und versuchten, die Website vom Netz zu nehmen. Das war allerdings nicht möglich, weil sie über einen ausländischen Server betrieben wurde. Daraufhin versuchten sie es mit Einschüchterung, stundenlangen Verhören und Schikanen (vgl. ebd., S. 93 ff.). Da sie Badawi zu dem Zeitpunkt noch nichts anhängen konnten, setzen sie die Familie so lange unter Druck, bis die Website 2009 vom Netz genommen wurde.

Dem liberalen Gedankengut und dem Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, blieb Badawi treu, sodass er 2010 zusammen mit einer Frauenrechtlerin ein neues Forum gründete. Dieses nannten sie das „Saudische liberale Netzwerk“. Diesmal konnten die Nutzer ohne Account beitreten, man erhoffte sich so den Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit. Bereits nach der ersten Woche hatte die Seite mehrere tausend Nutzer, auch berühmte Journalisten und Schriftsteller waren darunter (vgl. ebd., S. 108 ff.). Der Bekanntheitsgrad des neuen Forums ging auch über arabische Grenzen hinaus bis nach Europa. Einladungen zu internationalen Konferenzen folgten (vgl. ebd., S. 113).

Auch wenn Badawi von Menschen im In- und Ausland als Held und Vorbild gefeiert wurde, gab es in Saudi-Arabien auch viele Gegner seiner Ansichten: Badawis Vater lud Videos auf YouTube hoch, in denen er sich mehr als nur negativ zum Forum seines Sohnes äußerte und ihm Gotteslästerung vorwarf. Er gewann sehr schnell Anhänger, die ähnlich dachten. Damit hatte er auch den Behörden einen Vorwand geliefert, Badawi den legalen Status zu entziehen und ihm somit seine Rechte als Bürger zu nehmen (vgl. ebd., S. 117 ff.)

Das motivierte Badawi nur, noch mehr Artikel zu schreiben und noch präziser zu werden. Er schrieb viele Artikel zum Liberalismus, hauptsächlich unter dem Motto „leben und leben lassen“. Badawi betonte dabei die Freiheit des Einzelnen, das Recht auf Religionsfreiheit, sowie die Gleichstellung der verschiedenen Religionen (vgl. ebd. S. 131 f.).

Daraufhin startete eine religiöse Gruppierung eine Online-Petition gegen Badawi, die einige Unterstützer hatte. Sie verfassten auch ein Gutachten, in dem sie ihm vorwarfen, er sei vom Glauben abgefallen, weshalb sie die Todesstrafe für ihn forderten (vgl. ebd. S. 133 f.).

Zudem gab es auch konkrete Mordandrohungen: Hacker änderten die Website so ab, dass statt der Startseite „Wir werden dich töten“ auf dem Bildschirm stand. Weitere Morddrohungen kamen direkt an das Handy Badawis, und auch mit den Fotos seiner Kinder und seiner Frau wurde er erpresst. Ein Angriff auf Badawi, bei dem er nur knapp dem Tod entkommen ist, war schließlich der Weckruf für seine Frau, das Land mit ihren Kindern zu verlassen (vgl. ebd. S. 139 ff.).


Der Preis für seine Worte

Nachdem Ensaf Haidar und die Kinder im Libanon in Sicherheit waren, wollte Badawi sich noch um einige bürokratische Angelegenheiten kümmern und dann nachkommen. Dazu kam es aber nie, denn zu diesem Zeitpunkt wurde er verhaftet. Er saß in Untersuchungshaft, weil er ohne Fahrerlaubnis aus dem Verkehr gezogen wurde – doch seine Gegner suchten noch Gründe für eine konkrete Anklage. Gleichzeitig bekam er auch seinen ersten Preis verliehen (vgl. ebd. S. 174 ff.).

Vor einem Richter sollte Badawi dreimal das muslimische Glaubensbekenntnis sprechen, weil er – so lautet der Vorwurf – vom Glauben abgekommen sei. Würde er es aussprechen, wäre er wieder ein Muslim. Badawi verweigerte dies, weil es bedeuten würde, dass er dem Vorwurf zustimmt – er ist nie vom Glauben abgekommen und war deshalb immer noch ein Teil der Religionsgemeinschaft.
Dafür drohte man ihm die Todesstrafe an (vgl. ebd. S. 180). Bei der Verhandlung im Jahr 2013 wurde das Urteil der Todesstrafe zwar aufgehoben, jedoch verhängten die Richter eine neue Strafe: 600 Peitschenhiebe und sieben Jahre Haft (vgl. ebd. S. 197).

Die Gegner Badawis fanden das neue Urteil gegen ihn zu mild und forderten härtere Strafen. Im Libanon waren Ensaf Haidar und ihre Kinder deshalb nicht mehr sicher. Es gab weitere Drohungen und die Gefahr, dass die saudische Botschaft ihr die Kinder wegnehmen und sie Badawis Vater geben könnte, der nun an Badawis Stelle der offizielle Vormund der Familie war. Im Eilantrag gewährte man ihnen deswegen Asyl in Kanada. Von dort aus fing Ensaf Haidar auch an, Unterstützung für ihren Mann zu suchen (vgl. ebd. S. 201 f.).

Im Mai 2014 wurde im Revisionsverfahren erneut über Badawis Schicksal entschieden. Diesmal wurde das Urteil von 1000 Peitschenhieben, 10 Jahren Haft und der Geldstrafe verkündet. Badawis Anwalt konnte ihn in dieser Verhandlung nicht vertreten, da er selbst in Isolationshaft saß und gefoltert wurde (vgl. ebd. S. 221).

Am 7. Januar 2015 fand der Anschlag des IS auf Charlie Hebdo in Paris statt. Am 8. Januar 2015 rief Badawi seine Frau an und teilte ihr mit, dass er am nächsten Tag die ersten 50 Peitschenhiebe bekommen würde (vgl. ebd. S. 240). Am 9. Januar 2015 wurde Raif Badawi das erste Mal ausgepeitscht, im Kreis um ihn herum stand eine Menschenmenge, die „Allahu akbar“ rief (vgl. ebd. S. 243). Das Video kann man noch heute auf YouTube finden. Am 11. Januar 2015 marschierte der Vize-Außenminister von Saudi-Arabien Seite an Seite mit Merkel, Hollande und anderen Politikern im Namen der Meinungsfreiheit durch Paris (vgl. zeit.de, 2015).

Im Juni 2015 bestätigte der Oberste Gerichtshof das Strafurteil gegen Badawi. Da dies die letzte juristische Instanz ist, kann nur noch der König persönlich Badawi begnadigen (vgl. Haidar, Hoffmann 2015, S. 254). Sollte das Verfahren nochmals aufgerollt werden, wie Ensaf Haidar im August 2015 schreibt (vgl. ebd. S. 255), könnte Badawi vielleicht doch noch seine Freiheit bekommen. Es könnte aber auch sein, dass er nochmals wegen des Abfallens vom Glauben angeklagt wird und dass ihm dann tatsächlich die Todesstrafe droht (vgl. amnesty.de, 2015).


Kann ein Blog die ganze Gesellschaft beeinflussen?

In diesem Beitrag wurden drei konkrete Beispiele für Blogs genannt, die gesellschaftlich etwas bewirkt haben. Die ersten beiden Beispiele aus Amerika (der Skandal der Bush-Regierung, der aufgedeckt wurde, und die Unterstützung des Kandidaten der Demokraten) zeigen, wie viel ein Blog und seine Leser bewirken können.

In beiden Fällen war es nicht nur ein Blogger, der die Arbeit alleine geleistet hat, denn dass man alleine so einen Erfolg verbuchen kann, ist eher unwahrscheinlich. Vielmehr ist es so, dass ein breites Interesse in der Bevölkerung vorhanden war, etwas zu bewirken – in diesen beiden Fällen, weil sie die Menschen und ihre Volksvertreter direkt betrafen. Wenn man ein gemeinsames Interesse hat, kann man sich dank des Internet ganz leicht zusammenfinden und dieses Interesse vertreten.

Einige wichtige Voraussetzungen darf man dabei nicht außer Acht lassen: Die USA sind ein demokratischer Staat, in dem Meinungsfreiheit selbstverständlich und wo Partizipation gewollt ist. Diese Rechte sind auch in der Verfassung verankert. Die Bush-Regierung wollte sicherlich nicht, dass ein Blog ihren Skandal aufdeckt. Da das allerdings geschehen ist, hat sie die Konsequenzen daraus gezogen und rechtstaatlich gehandelt.

Die zweite wichtige Voraussetzung ist, dass die USA ein fortschrittlicher Staat mit (größtenteils) aufgeklärten Bürgern ist. Kinder sind zu Bildung verpflichtet, damit aus ihnen mündige Bürger werden können. Sie werden dazu erzogen, selbstständig nachzudenken und kritisch zu hinterfragen. Begründet wird mit Argumenten, nicht mit Bibel-Zeilen – wobei es hier in bestimmten Gruppierungen auch Ausnahmen gibt.

In der westlichen Welt, wo Menschenrechte geachtet werden, hat man eine gute Chance, mit seinem Blog andere Mitbürger zu erreichen und sich für etwas einzusetzen. Je nach Bekanntheitsgrad des Blogs variiert der Einflussgrad natürlich, aber hier greift auch der klassische Spruch, dass jeder einmal klein angefangen hat.

Hinzu kommt, dass sich über das Internet Informationen viel schneller verbreiten lassen. Wenn man nur etwas zurückblickt und sich überlegt, was beispielsweise Luther erreicht hat, nachdem er eine einzige Schrift an der Tür einer Kirche angebracht hatte. Oder was Hans und Sophie Scholl mit ihren Flugblättern erreicht haben. Sie alle haben die Gesellschaft bereits ohne Internet maßgeblich beeinflusst. Was hätten sie alles erreichen können, wenn sie das Internet gehabt hätten?

In Ländern wie Saudi-Arabien gestaltet sich die Einflussnahme auf die Gesellschaft um einiges schwieriger als in den USA. Das liegt in erster Linie nicht an der Verfassung des Landes, sondern an der Mentalität seiner Bürger. Badawi war es nicht verboten, eine Website zu starten, und auch das Königshaus hatte nicht die Absicht, diese zu verbieten. Die Religionspolizei hat in Saudi-Arabien zu viel Macht, weil die Religion im Alltag der Menschen nach wie vor die größte Rolle zu spielen scheint. Es waren schließlich auch Badawis Mitbürger, die die ersten Schritte gegen ihn unternommen haben, an der Spitze stand sein eigener Vater. Badawi selbst schreibt zum Thema Staat und Religion:
„Die Hauptmission einer jeden Theokratie ist es, jegliche Vernunft zu töten, den historischen Materialismus und den gesunden Menschenverstand rigoros zu bekämpfen und die Massen, so gut es geht, in die absolute Verdummung zu treiben. Diese Ideologien muss man bekämpfen. Man muss sie an ihrem Versuch hindern, den Menschen zu töten.“ (Schreiber, Badawi, 2015, S. 46)
In Saudi-Arabien wurde diese Mission erfüllt, da Bürger einen Bürger angreifen, der sich nur dafür ausspricht, dass alle mehr Rechte bekommen. Dementsprechend ist es in Saudi-Arabien für viele Blogger schwierig und riskant, liberales Gedankengut in die Gesellschaft zu bringen. Sie stoßen auf sehr viel mehr Widerstand als auf Unterstützung. Sehr einfach ist es für Blogger (oder YouTube-Nutzer, wie im Fall von Badawis Vater) die Gesellschaft zu mobilisieren, wenn sie gegen Menschen wie Badawi hetzen – sein Vater hat in kürzester Zeit sehr viel Unterstützung bekommen.

Was man diesbezüglich festhalten kann: Es ist leicht, die Gesellschaft zu beeinflussen, wenn man wie der Großteil der Gesellschaft denkt. Es ist schwer und lebensgefährlich, die Gesellschaft zu beeinflussen, wenn man anders denkt als sie.

Allerdings ist es nicht unmöglich. Maßgeblich beteiligt am Arabischen Frühling war schließlich die Bevölkerung, zu der auch Blogger zählen. So wie zum Beispiel die Internetaktivistin Lina Ben Mhenni, die in Tunesien daran beteiligt war, den dortigen Diktator zu vertreiben. Auch sie hat darüber ein Buch geschrieben: Vernetzt euch! Es gibt also auch Beispiele von erfolgreicher Einflussnahme in der arabischen Welt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Blogs definitiv die Gesellschaft beeinflussen können. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, hat man dabei, je nachdem, in welchem Land man sich befindet oder welcher Ansicht man ist, mehr oder weniger Erfolg. Insgesamt sollte man sich weltweit für mehr Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen, denn obwohl die Peitschenhiebe für Raif Badawi vorerst ausgesetzt worden sind, ist er längst nicht der einzige Blogger, der für seine Worte bezahlen muss.



Literatur
  • Haidar, Ensaf, Hoffmann, Andrea C. (2015): Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens. Originalausgabe. Köln: Bastei Lübbe AG 
  • Moorstedt, Tobias (2008): Jeffersons Erben. Wie die digitalen Medien die Politik verändern. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 
  • Schreiber, Constantin (Hrsg.), Badawi, Raif (2015): 1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn: BpB
Internetquellen

1 Kommentar:

  1. Zum Glück leben wir in einem Land, in dem wir unsere Meinungen (noch) frei äußern dürfen. Aber immer wieder werden wir auch angefeindet von außereuropäischen Lesern u.U. Politikern, die ihr Gedankengut übertragen möchten. Hoffen wir, dass wir unsere Meinungsfreiheit weitestgehend behalten dürfen. www.denkstop.blogspot.com

    AntwortenLöschen