In diesem Beitrag stellt Louis Hakim Karl folgenden Aufsatz vor:
Roessing, Thomas (2014): Enzyklopädie-Amateure als Amateur-Journalisten: Wikipedia als Gateway für aktuelle Ereignisse; in: SCM Studies in Communication and Media, 3. Jg., Heft 2/2014, S. 205-227, online unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2014-2-205/enzyklopaedie-amateure-als-amateur-journalisten-wikipedia-als-gateway-fuer-aktuelle-ereignisse-jahrgang-3-2014-heft-2.
Zunächst konstatiert Roessing, dass journalistische Arbeit durch die Digitalisierung zunehmend von fachfremden Personen ausgeführt wird. Ursprünglich hatte auch die Wikipedia ein anderes Ziel als das Verbreiten von Neuigkeiten, da sie als Online-Enzyklopädie ein digitales Pendant zu Universalenzyklopädien wie dem Brockhaus darstellen sollte.
Da die Verbreitung von Nachrichten eigentlich dem Projekt „Wikinews“ der Wikimedia-Foundation unterstellt sein sollte, sehen immer mehr Mitglieder der Wikipedia-Community den Umgang mit aktuellen Ereignissen kritisch. Der Verlauf der Konfliktlinien, die verschiedenen Argumente und die Folgen für die bestehenden Artikel sind Gegenstand der vorliegenden Studie, die auf Wikipedia-Forschung und der Gatekeeper-Theorie basiert (S. 208).
Nach Roessing beschäftigt sich die Wikipedia-Forschung mit mehreren zentralen Forschungsgebieten, wie beispielsweise die Motivation zur Wikipedia-Mitarbeit oder die Interaktion und Strukturen innerhalb der Community. Diese offene Community bearbeitet und pflegt einen deutschen Bestand von mehr als 1,6 Millionen Artikeln, die man teilweise in einer klassischen Enzyklopädie nicht finden würde (S. 208).
Weiterhin betont Roessing den enormen Unterschied in Reichweite, Umfang und Details zwischen digitalen und analogen Enzyklopädien. Laut Roessing sei Wikipedia den analogen Enzyklopädien weit überlegen, da die Aktualität nicht nur eine Möglichkeit, sondern zentrales Merkmal der Wikipedia sei (S. 209).
Roessing nutzt für den vorliegenden Beitrag unter anderem das Konzept der Gatekeeper-Theorie. Im Gatekeeping geht es darum, wie Kommunikatoren als Schleusenwärter (Gatekeeper) fungieren und den Informationsstrom regulieren. Der Kommunikator entscheidet über das Veröffentlichen oder Nicht-Veröffentlichen von Medieninhalten (S. 210).
In der Wikipedia ist es jedem Nutzer möglich, als Gatekeeper zu fungieren und Inhalte zu veröffentlichen, die nicht redaktionell geprüft werden. Laut Roessing entspräche die Wikipedia aufgrund der Amateur-Enzyklopädie-Autoren einer journalismusähnlichen Nachrichtenplattform (S. 211). Für den vorliegenden Beitrag stützt Roessing seine Untersuchung auf die folgenden Forschungsfragen:
- FF1: Wie geht die Wikipedia-Community mit Artikeln über aktuelle Ereignisse um? Welche Argumente verwenden Befürworter (Gate geöffnet) und Gegner (Gate geschlossen) solcher Artikel?
- FF2: Was passiert konkret, wenn Wikipedia mit einem sich aktuell entwickelnden Ereignis konfrontiert wird? (S. 211)
Für die qualitative Argument-Analyse zieht Roessing verschiedene Untersuchungsmaterialien heran. Er stützt sich in seiner Untersuchung auf Meinungsbilder der Community und Löschdiskussionen verschiedener Artikel aus den Jahren 2005 und 2009 (S. 213). Hier kommt Roessing zu dem Schluss, dass sich die am häufigsten genannten Argumente in neun Contra- und elf Pro-Argumente zusammenfassen lassen können. Diese 20 Argumente ordnet er vier Kategorien zu:
- Argumente mit Bezug zur enzyklopädischen Arbeit,
- pragmatische Argumente,
- Wikipedia-bezogene Argumente und
- Wikinews-bezogene Argumente.
Während Wikinews-bezogene Argumente ausgeglichen sind, überwiegen bei pragmatischen und Wikipedia-bezogenen Argumenten die befürwortenden Begründungen. Lediglich die Argumente mit Bezug zur enzyklopädischen Arbeit kritisieren den Umgang mit aktuellen Ereignissen (S. 214).
Roessing führt in seinem Beitrag zwei Fallbeispiele für den Umgang mit aktuellen Ereignissen an: Die Massenpanik der Loveparade 2010 und die Bombenanschläge in London 2005. Im Fallbeispiel der Loveparade setzt laut Roessing ein Prozess des Second-Level-Gatekeeping ein. Hierbei entscheiden Gatekeeper, welche Informationen in einem bereits veröffentlichten Beitrag enthalten sein sollen und welche nicht. Roessing schreibt, dass einige Nutzer eher daran interessiert seien, ihre eigene Sicht der Dinge einzubringen, anstatt der Qualität der Enzyklopädie gerecht zu werden (S. 219).
Das Fallbeispiel der Londoner Bombenanschläge soll verdeutlichen, dass die Autoren der Online-Enzyklopädie mit aktuellen Ereignissen professionell und qualitativ umgehen. Der Wikipedia-Artikel der Bombenanschläge findet durch das schnelle Sammeln, Verarbeiten und Veröffentlichen der verfügbaren Informationen große Anerkennung unter Journalisten (S. 220). Roessing fasst die Ergebnisse seiner Untersuchung in fünf Punkten zusammen:
- Die Schnelligkeit der Wikipedia ist ihr größter Vorteil, sorgt allerdings auch für Diskrepanzen innerhalb der Community.
- Aus Inhaltsanalyse und Gatekeeper-Theorie ergeben sich 20 Argumente, von denen elf die aktuellen Ereignis-Artikel verteidigen und neun dagegen vorgehen.
- Die Argumente lassen sich in vier Kategorien einteilen: Bezug zu enzyklopädischem Arbeiten, pragmatische Argumente, Wikipedia-bezogene Argumente und Wikinews-bezogene Argumente.
- Der Artikel über die Loveparade 2010 ist ein Fall von Second-Level-Gatekeeping.
- Die englischsprachigen Nutzer der Wikipedia erhielten 2005 berechtigte Anerkennung für die Dokumentation der Londoner Bombenanschläge.
Abschließend bestätigt Roessing die gute Arbeit der „Amateur-Enzyklopädisten“, spricht der Wikipedia eine zusätzliche Funktion des digitalen Nachrichtenangebots zu und fordert weitere anknüpfende Forschungen an seine Arbeit (S. 221).
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