"Bevor man wen auch immer was auch immer lehrt, sollte man ihn zumindest kennen. Wer begegnet uns heute an den Schulen, den Gymnasien, der Universität?"In beneidenswerter Kürze und Prägnanz zeichnet Michel Serres auf den folgenden Seiten ein Porträt der "Kleinen Däumlinge" (Marc Prensky hatte sie in einem kurzen Aufsatz aus dem Jahr 2001 "digital natives" genannt) und der gegenwärtigen Umbrüche praktisch aller Lebensbereiche:
"Ohne dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne (...) ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum." (S. 15)Im Gegensatz zu den meisten anderen Beobachtern des beschleunigten Wandels durch die Digitalisierung verfällt (der zwischenzeitlich immerhin 83-jährige) Serres nun aber nicht in kulturpessimistisches Wehklagen - im Gegenteil: Er liebt diese jungen Leute "von ganzem Herzen" (S. 18) und gesteht:
"Ich wäre gern achtzehn, so alt wie die Kleinen Däumlinge, jetzt, da alles zu erneuern, ja erst noch zu erfinden ist." (S. 23)Genau das macht den durch und durch sympathischen Grundzug des Buches aus, trägt dem Verfasser aber in manchen Rezensionen seltsame Vorwürfe ein. So entblödet sich etwa eine Journalistin nicht, in der Zeit zu schreiben:
"Michel Serres' digitale Naivität erklärt sich auch durch seine Perspektive: Er schreibt als Großvater und Professor, oft sehr blumig und metaphernreich."Der Verfasserin sei gesagt, dass sich dieser "digital naive" Autor schon mehr als 20 Jahre vor ihrer Geburt intensiv mit Themen wie Netzwerken, Medien und Kommunikation befasst hat. Wenn er schreibt, was er schreibt, dann schreibt er es aus gutem Grund. Nassforsche Formulierungen ersetzen keine Recherche (und "petite" schreibt man mit einem "t").
Weder diese noch andere Rezensenten sind übrigens auf den (eigentlich naheliegenden) Gedanken gekommen, sich mit dem Titel des Essays zu befassen. Das ist insofern schade, als darin eine entscheidende Pointe liegt. Denn der "kleine Däumling" in Perraults Märchen, der anfangs von allen belächelt und unterschätzt wird, erweist sich am Ende als der Retter seiner älteren Brüder.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen