Dienstag, 3. November 2015

Wikipedia 2015 – von alten Problemen und neuen Herausforderungen

[Hinweis zur Lesart: Aus Solidarität und aus Gründen der Leserlichkeit wird im nachfolgenden Text nur die weibliche Bezeichnung verwendet. Selbstverständlich sollen sich auch Männer angesprochen fühlen.] 

Man kennt es, man hat es schon genutzt, man schätzt es – Wikipedia. Seitdem die Online-Enzyklopädie Wikipedia existiert, hat sie das Nutzungsverhalten zahlreicher Internetuserinnen beeinflusst. Ob zur Informationsgewinnung oder hobbymäßig als Autorin, die Vielfalt der Wikipedia bietet etwas für jede Nutzerin.

Aktuell belegt die Wikipedia sowohl im globalen als auch im deutschen Vergleich Platz 7 bei den am häufigsten besuchten Internetseiten, u.a. hinter den großen, profitorientierten Konzernen Google, Facebook und Amazon.

Wie andere Medien muss auch Wikipedia mit der Zeit gehen, sich weiterentwickeln und ihr Angebot erweitern, um ihre Attraktivität für die Nutzerinnen aufrechterhalten zu können. Die Entwicklung der Wikipedia hat im Verlauf der vergangenen Jahre neue Fragen aufgeworfen, die es zu klären gilt.


Google…pedia – Eine Verbindung des Schreckens?


Eine der bedeutenderen Entwicklungen der vergangenen Jahre ist die Annäherung der Suchmaschine Google an die Wikipedia. Im Rahmen einer Suche über Google erscheinen entsprechende Links zur Wikipedia, soweit vorhanden, regelmäßig am Anfang der Ergebnisliste. Weiterhin nutzt Google die Informationen der Wikipedia, um in Kurzform ein paar wichtige Informationen zum Suchobjekt direkt per Infobox zur Verfügung zu stellen.

Man könnte meinen, dass sich dabei für beide Dienste eine Win-win-Situation ergibt: Google kommt an Informationen, die den eigenen Nutzerinnen zur Verfügung gestellt werden und somit die eigene Attraktivität positiv beeinflussen können, und die Wikipedia wird durch diese Verbindung mit der größten und einflussreichsten Suchmaschine noch häufiger genutzt. Weiterhin können dadurch noch mehr Internetnutzerinnen angesprochen werden und sich somit ein breites Feld für neue Wikipedia-Nutzerinnen und Nachwuchs-Wikipedianerinnen eröffnen.

Doch auch kritische Stimmen in Bezug auf diese Annäherung werden laut. Der Blog Wiki-Watch berichtete im August 2013, dass der Projektleiter von WikiData zu Google wechseln werde. Dass Google Interesse an den Daten der Wikipedia hat, ist keine besonders große Überraschung. Unterzieht man jedoch die Wikipedia und Google einem direkten Vergleich, wird schon zu Beginn deutlich, dass es sich bei Google im Gegensatz zu der Wikipedia um ein gewinnorientiertes Unternehmen handelt, das sich nicht der Gemeinnützigkeit verpflichtet hat.

Die Annäherung von Google an die Wikipedia hat sich bereits schleichend über die vergangenen Jahre angedeutet, vor allem über Großspenden, aber auch über zweckgerichtete finanzielle Förderung von Projekten wie WikiData. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen diese Verbindung noch hervorbringen wird und inwieweit Google unter dem neuen Mutterkonzern Alphabet die Wikipedia beeinflussen, unterstützen, aber auch (be)nutzen kann.

Steckt Wikipedia noch in der Gender-Falle?


Wie bereits in früheren Beiträgen in diesem Blog festgestellt wurde, lebt die Wikipedia von ihren Nutzerinnen und Autorinnen, die auch als Wikipedianerinnen bezeichnet werden. Sie verleihen der Wikipedia, durch ihre eigenen Beiträge und die Aktualisierung bereits vorhandener Einträge, ihren Anspruch darauf, ein umfangreicher und aktueller Wissensspeicher zu sein. Die gegenseitige Überwachung von Beiträgen und Änderungen, um die Anzahl von falschen oder fehlerhaften Informationen zu reduzieren, stellt eine weitere wichtige Aufgabe der Qualitätssicherung dar, die neben den Bots auch von den Wikipedianerinnen geleistet wird.

Das Verfassen eigener Beiträge für die Wikipedia stellt eine Königsdisziplin dar. Die Autorinnen fertigen Beiträge auf Grundlage des eigenen Interesses an, aber auch aufgrund von weitergehender Recherche. Mit den individuellen Beiträgen werden, bei aller Neutralität, auch eigene Ansichten und Absichten kommuniziert, für deren Ausprägung die jeweilige Autorin verantwortlich ist. Wichtig hierbei ist jedoch, dass auch das Verhalten der anderen Wikipedianerinnen in den Blick genommen wird, die nach Veröffentlichung auch an dem ursprünglichen Beitrag Ergänzungen und Veränderungen vornehmen können. Daraus ergibt sich, dass die Individualität der Beiträge häufig durch die Möglichkeiten der Wikipedia begrenzt wird, verloren geht oder um weitere Informationen und Ansichten ergänzt wird.

Erhebungen über die Gemeinschaft der Wikipedianerinnen in den vergangenen Jahren zeigen, dass es im Bereich der Autorinnen nur einen relativ geringen Frauenanteil gibt. Untersuchungen und Kommentatoren beziffern den Frauenanteil auf ungefähr 10%. Eine verlässliche Erhebung darüber, wie viele Wikipedianerinnen weiblich sind, ist nahezu unmöglich. Neben der Anonymität des Internets nutzen viele Wikipedianerinnen geschlechtsneutrale Pseudonyme wie SkyRocket, SouthPark uvm. Dadurch lässt sich häufig nicht nachvollziehen, ob es sich um Männer oder um Frauen handelt.


Quelle: https://blog.wikimedia.org/2012/04/27/nine-out-of-ten-wikipedians-continue-to-be-men/


Quelle: https://blog.wikimedia.org/2012/04/27/nine-out-of-ten-wikipedians-continue-to-be-men/

Grob kann die Problematik der Wikipedia in Bezug auf die sogenannte Gender Gap wohl auf zwei Probleme eingegrenzt werden:

  1. Es existiert nur vergleichsweise wenig qualifizierter Inhalt über Frauen.
  2. Es gibt kaum Frauen, die Beiträge zur Wikipedia beisteuern oder bearbeiten.

Woran liegt es, dass nur relativ wenige Inhalte über Frauen in der Wikipedia zu finden sind? Ein Bericht in der Welt vom 14.06.2015 verdeutlicht ein großes Problem – den alltäglichen Sexismus in der Wikipedia. So finden sich in Bezug auf weibliche Pornodarstellerinnen sehr ausführliche Berichte, wohingegen die Suche nach deutschsprachigen Lyrikerinnen freundlich ausgedrückt wohl die Bezeichnung lückenhaft verdienen würde.

Man kann nicht behaupten, dass Frauen weniger internetaffin als Männer seien, die Prioritäten und das Nutzungsverhalten sind häufig einfach unterschiedlich gelagert. Dass man Frauen dort abholen soll, wo sie sich häufiger aufhalten, hat die ehemalige Chefin der Wikimedia Foundation in San Francisco, Sue Gardner, erkannt und unter der Bezeichnung "WikiWomen unite!" eine Kampagne ins Leben gerufen und über die sozialen Medien Facebook und Twitter Wikipedianerinnen aus aller Welt erreicht. (vgl. http://www.emma.de/artikel/wikiwoman-unite-und-deutschland-266149, letztmalige Einsicht: 10.10.2015). Das von Gardner ausgerufene Ziel, den Frauenanteil bei Wikipedia von 9% auf 25% zu steigern, konnte bisher nicht erreicht werden.

In Deutschland wurde im Rahmen der re:publica 2013 von Wikimedia Deutschland eine Diskussionsrunde zum Thema Frauen in der Wikipedia veranstaltet.



Die Problematik scheint bei den Vertreterinnen von Wikimedia Deutschland durchaus angekommen zu sein, während der Debatte werden allerdings keine allzu konkreten Handlungsziele, außer der gewünschten Steigerung des Frauenanteils, thematisiert. Einen anderen Eindruck kann man von Wikimedia in den USA gewinnen:




Frauen werden im Rahmen von Art + Feminism Edit-a-Thon verstärkt dazu motiviert, sich in der Wikipedia zu engagieren, und bekommen gewisse Grundlagen an die Hand, um einen gelingenden Start in die Wikipedia-Community zu haben. Hierbei wirkt Wikimedia unterstützend mit Kursen und anderen Aktivitäten. Auch Wikimedia Deutschland hat das in ihrem Jahresplan 2014 erkannt und will vergleichbare Kurse zur Frauenförderung großflächig in Deutschland etablieren.

Interessant wäre eine genauere Betrachtung der unterschiedlichen wahrgenommenen Rollen von weiblichen Wikipedianerinnen. Daraus könnten Rückschlüsse darüber gezogen werden, in welcher Art und Weise sich vor allem Frauen in der Wikipedia-Community bewegen und ob bestimmte Aktivitäten einen höheren Reiz auf sie ausüben als andere. Darauf aufbauend erscheint dann eine gezielte Förderung und Erweiterung der angebotenen Möglichkeiten sinnvoll, um den Einstieg in die Wikipedia-Community auch und besonders für Frauen attraktiver zu gestalten.

Im Rahmen der Debatte um die Thematik Frauen in der Wikipedia wird oft auch ein Problem angesprochen, welches möglicherweise von noch größerer Bedeutung für die Wikipedia werden kann und welches direkt zur nächsten Frage führt.

Autorenschwund – die Krankheit der Wikipedia?


Wie bereits thematisiert wurde, lebt Wikipedia von dem Engagement der aktiven Wikipedianerinnen. Aktuell verfügt die deutschsprachige Ausgabe der Wikipedia über 2.281.149 registrierte Benutzerinnen, allerdings zählen nur 19.017 Benutzer zu den aktiven Wikipedianerinnen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Statistik).

Vergleicht man die Entwicklung im Bereich der aktiven Wikipedianerinnen, bleibt festzustellen, dass sich deren Anzahl in den vergangenen Jahren, seit den bisherigen Höchstständen der Jahre 2007 und 2008, um rund 30% verringert hat (vgl. https://stats.wikimedia.org/DE/ChartsWikipediaDE.htm).

Gleich mehrere Gründe für den Autorenschwund können benannt werden. So ist vordergründig eines der Hauptprobleme die Löschung von Beiträgen der Wikipedianerinnen, die üblicherweise viel Zeit und Mühe in ihre Beiträge gesteckt haben. Gerade für Wikipedia-Neulinge kann die Löschung ihrer Beiträge einen negativen Eindruck hinterlassen und zu einem umgehenden Rückzug aus der Wikipedia führen.

Ein weiteres Problem, welches unmittelbar mit dem Verfahren der Löschung von Beiträgen zusammenhängt und ein großes Konfliktpotential beinhaltet, sind die Relevanzkriterien der Wikipedia. Häufig kommt es vor allem bei neuen Beiträgen darüber zu Diskussionen, wobei die Frage der Relevanz meist nicht endgültig geklärt werden kann und ein Beitrag ggf. gelöscht wird. In Folge dessen fühlen sich Autorinnen gelegentlich auch mal derartig vor den Kopf gestoßen, dass sie ihre Mitarbeit an der Wikipedia einstellen.

Neben dem reinen Autorinnenschwund kann zusätzlich noch ein Administratorinnenschwund diagnostiziert werden. Da die Administratorinnen mehr Funktionen als die üblichen Wikipedianerinnen nutzen können, beispielsweise das Löschen von Beiträgen oder auch disziplinarische Maßnahmen gegenüber anderen Benutzerinnen, kommt ihnen eine besondere Bedeutung bei der Qualitätssicherung und der Pflege der Wikipedia-Community zu.

Die Sprache untereinander wird häufig auch zu einem Problem, das auf neue Nutzerinnen abschreckend wirken kann, aber auch alteingesessene Wikipedianerinnen gelegentlich zum Verzweifeln bringt. Gerade eine gewisse männliche Dominanz in den zahlreichen Diskussionsforen kann den abschreckenden Eindruck unterstreichen und zur Zurückhaltung führen, was das eigene Engagement angeht.

Eine weitere Kritik an Wikipedia, die durch den fortwährenden Autorinnenschwund nur noch einmal unterstrichen wird, ist die mangelnde Vielfalt bzw. Diversität innerhalb der Wikipedia-Community. Neben dem Wunsch nach einer stärkeren Einbindung von Frauen müssen auch andere unterrepräsentierte Mitglieder der Gesellschaft dazu befähigt und motiviert werden, sich an der Wikipedia zu beteiligen. So ist beispielsweise auch die barrierefreie Mitarbeit von Behinderten, Senioren und Migranten sowie von Kindern und Jugendlichen ein Bereich, der Gehör finden sollte.

Fazit


Wikipedia hat uns verändert. Wer sich heutzutage schnell informieren möchte, nutzt in der Regel zuallererst Wikipedia. Der Wikipedia kommt damit auch eine große Macht zu, denn ein so umfangreicher Speicher von Wissen und Informationen kann auch dazu eingesetzt werden, dass sich das öffentliche Meinungsbild zu bestimmten Themen verändert und die Validität der Aussagen nicht mehr überprüft wird. Diese Thematik wird vor allem dann zum Problem, wenn die Zahl der Autorinnen und Administratorinnen weiter abnimmt und keine effektiven Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.

Die Verwendung der weiblichen Lesart mag für einige Leserinnen ungewohnt erscheinen, möglicherweise auch negativ aufgefallen sein. Es sollte mit obigem Beitrag aber auch gezeigt werden, was ein Wechsel der Perspektive und ein Abweichen von der gewohnten Lesart mit sich bringen kann. Auch kleine Schritte können das große Ganze verändern, man muss nur offen sein für die Veränderung und eine solche auch zulassen.

Um die Qualität und die Vielfalt der Beiträge in der Wikipedia aufrechtzuerhalten und steigern zu können, erscheint eine höhere Anzahl von weiblichen Wikipedianerinnen wünschenswert. Es bleibt festzuhalten, dass sich aus der Individualität der Menschen und deren Motivation und vielfältigen Interessen ein großes Potential für die Wikipedia ergibt. Jeder kann sich einbringen, denn weder ist die Wikipedia bereits fertig, noch gibt es einen Grund dafür, nicht weiter an ihrer Aktualität und Attraktivität zu arbeiten.

Literatur – und Quellenverzeichnis


Literatur:


Caspary, Rolf [Hrsg.] (2011): Wissen 2.0 für die Bildung. Wie Wikipedia und Co. unsere Kultur verändern. Stuttgart

Jaschniok, Meike (2007): Wikipedia und ihre Nutzer. Zum Bildungswert der Online-Enzyklopädie. Marburg

Meckel, Miriam / Stanoevska-Slabeva, Katarina [Hrsg.] (2008): Web 2.0. Die nächste Generation Internet. Baden-Baden

Internetquellen:


Babic, Sabina (2013): Die Wikipedianer, http://web20ph.blogspot.de/2013/03/die-wikipedianer_26.html
[letztmalig eingesehen am 28.10.2015]

Falke (2013 I): Übernimmt Google Wikipedia?, http://blog.wiki-watch.de/?p=2513
[letztmalig eingesehen am 20.10.2015]

Falke (2013 II): Wikimedia in der Gender-Falle? Warum Diversität nicht nur Frauenförderung bedeutet, http://blog.wiki-watch.de/?p=2716
[letztmalig eingesehen am: 20.10.2015]

Falke (2014 I): Relevanzkriterien und Löschpraxis. Oder: Wie man Autoren aus Wikipedia vertreibt, http://blog.wiki-watch.de/?p=2908
[letztmalig eingesehen am: 20.10.2015]

Falke (2014 II): Wohin steuert Wikipedia? Blick in eine ungewisse Zukunft, http://blog.wiki-watch.de/?p=3694
[letztmalig eingesehen am: 24.10.2015]

Hähnig, Anne (2012): Eine Million Nutzer spenden für Wikipedia, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/rekordeinnahmen-eine-million-nutzer-spenden-fuer-wikipedia-11590651.html
[letztmalig eingesehen am: 10.10.2015]

Khanna, Ayush (2012): Nine out of ten Wikipedians continue to be men: Editor Survey, https://blog.wikimedia.org/2012/04/27/nine-out-of-ten-wikipedians-continue-to-be-men/
[letztmalig eingesehen am: 20.10.2015]

Stein, Hannes (2015): Wikipedia ist eine sexistische Männerwelt, http://www.welt.de/debatte/kommentare/article142471444/Wikipedia-ist-eine-sexistische-Maennerwelt.html
[letztmalig eingesehen am: 10.10.2015]

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