Samstag, 19. März 2016

Love@mour – wie das Internet unsere Selbstdarstellung und Sexualität beeinflusst

Sie legt Lippenstift und Lidschatten auf. Smokey Eyes und rote Lippen, verrucht und sexy möchte sie aussehen. Minirock, Pumps und eine kleine Handtasche werden sie auf ihrem Weg in die Bar begleiten. Sie trägt schöne Dessous – schwarz und in Spitze gehüllt. Sie hat gelesen, dass dies für die meisten Männer besonders attraktiv zu sein scheint. Sie betrachtet sich im Spiegel, lächelt. Er wird ihrem Charme nicht widerstehen können, da ist sie sich sicher. Noch schnell einige Spritzer Parfum und los geht’s.

Sie parkt ihren Wagen in einer Seitenstraße, schließlich darf er ruhig etwas auf sie warten. Ein letzter prüfender Blick und sie steigt aus dem Auto aus. Langsam tänzelt sie in Richtung Bar. Ihre klappernden Absätze kündigen ihr Kommen an und viele Männer drehen sich nach ihr um. Sie spürt eine Erregung, fühlt sich sexy wie nie. Doch plötzlich beschleicht sie das Gefühl, welches sie die ganze Zeit zu verdrängen versucht hat: Unsicherheit. Wird er mich wirklich anziehend finden? Was sage ich, wo doch schon so viel im Chat geschrieben wurde? Sieht er wirklich so aus wie auf den Fotos? Keine Zeit nachzudenken, denn dort sitzt er.

Lässig an der Bar gelehnt, einen Gin Tonic in seiner linken Hand. Halt! Moment! Schrieb er nicht, dass er Rechtshänder sei und nur Bier möge? Jetzt bloß nicht durchdrehen, was zählen die geschriebenen Worte denn noch? Jetzt, wo sie ihm gegenübersteht. Sie lächelt und bestellt einen Mojito. Nun wird es sich entscheiden. Bleibt es bei diesem Drink, verbringen die beiden die ganze Nacht miteinander oder, was bis gerade noch undenkbar schien, das ganze Leben?

Sicherlich fragen sich einige Leserinnen und Leser, was an einer ersten Begegnung dieser Art neu oder gar besonders sein soll. Das berühmte erste Date hat es doch schon immer gegeben. Ja, aber so ganz stimmt das eben nicht mehr. Die Szene ähnelt vielen Begegnungen, die es bereits zu früheren Zeiten gegeben hat, doch haben sich die Vorstellungen immens geändert. Einige Bestandteile des Kennenlernens, etwa das Ritual eines gemeinsamen Essens oder Drinks, scheinen noch heute zu existieren. Und wer macht im Jahre 2016 den ersten Schritt und spricht sein Gegenüber an? Richtig, selbstverständlich übernimmt dies der Mann. Wo kämen wir da hin, wäre es anders?

Die starr anmutenden Traditionen, so scheint es, sollen das Neue, das sich durch eine „unergründliche existenzielle Unbestimmtheit auszeichnet“, verschleiern (Kaufmann 2010, S. 8). Jedoch hat sich mit Beginn des 21. Jahrhunderts die Art und Weise der Liebesbegegnungen, gar der Sexualität, abrupt gewandelt. Kaufmann nennt es eine sanfte Revolution, welche durch zwei sehr unterschiedliche Phänomene ausgelöst wurde: eine neue Bejahung der Sexualität durch die Frauen und die allgemeine Verbreitung des Internets.

Insbesondere das Internet hat Auswirkungen auf unser Liebesleben und unsere Sexualität. Auch heute noch lernen sich viele Menschen im realen Leben kennen. In einer Bar, beim Tanzen, über gemeinsame Freunde oder – ganz klassisch – auf der Arbeit. Aber es gibt, wie meine Kommilitonin hier bereits feststellte, vermehrt Menschen, die ihr Glück auf virtuellem Wege, nämlich im Internet, suchen.

Sie können dabei auf vielfältige Dating-Plattformen zurückgreifen. In den letzten Jahren wurden Dating-Apps, etwa Tinder oder Lovoo, immer beliebter. Ähnlich wie bei den Sozialen Netzwerken generiert der User ein eigenes Profil, welches Fotos und zusätzliche Informationen enthalten kann. Doch wie präsentiert man sich im World Wide Web? Und hat das Internet auch unser Intimstes, nämlich unsere Sexualität, verändert? Diesen Fragen wird im folgenden Beitrag nachgegangen.

Eine neue Liebeswelt: Zwischen Selbstdarstellung und tatsächlichen Gefühlen

Diese neue, elektronische Liebeswelt erscheint zunächst sehr aufregend. Was erwartet mich im Chat bzw. in der Dating-App? Wie gebe und verhalte ich mich im World Wide Web? Entwickle ich gar eine neue, andersartige Persönlichkeit? Betrachten wir zunächst die Rollenkonstruktion im realen Leben. Erving Goffman, ein bereits verstorbener kanadischer Soziologe (vgl. Lenz 1991), stellte Untersuchungen zu Verhaltensmodellen und der Selbstdarstellung im Alltag an.
Gemäß Goffman ist „jeder Ort, der durch feste Wahrnehmungsschranken abgegrenzt ist und an dem eine bestimmte Tätigkeit regelmäßig ausgeübt wird, […] eine gesellschaftliche Einrichtung“ (Goffman 1969, S. 217).
Ähnlich wie bei einem Theaterstück ist dieser Ort eine Bühne, auf der eine Person zu dem Darsteller ihrer selbst wird. Gewiss orientiert sich Goffman stark am Theatergeschehen, jedoch sind seine Ausführungen an die Lebenswelten der Menschen angeknüpft und diese unterliegen bekanntermaßen keinem Skript. Unser Verhalten ist schlichtweg erlernt und zwar bereits von Geburt an.

Verhaltensregeln, auch sehr einfache, beispielsweise dass man an einer roten Ampel stehen bleiben muss, sind verinnerlicht und begleiten uns unbewusst durch den Alltag. Aber auch extremere Beispiele, etwa dass man andere Menschen nicht beleidigen, gar verletzen darf, sind in unserer Gesellschaft als Regeln verankert und werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Innerhalb der uns vertrauten Umgebung, zum Beispiel der Familie, werden diese Regeln gelebt und Gemeinsamkeiten betont. Problematisch kann es werden, sobald fremde Personen in unser Leben treten. Jene haben, fernab unserer Rolle, Eindrücke von uns gewonnen und uns aufgrund dieser in bestimmte Kategorien eingeordnet (vgl. Goffman 1969).

Der Mensch fungiert dabei als Darsteller, welcher Eindrücke erzeugt, und ist gleichzeitig, von außen betrachtet, eine Schauspielfigur, deren Eigenschaften durch die Darstellung offensichtlich werden (vgl. Pönitzsch 2003). Eindrücke, so Goffman weiter, sind Informationsquellen für nicht offensichtliche Tatsachen. Jeder Mensch verlässt sich auf diese Eindrücke, weil es meist an Informationen mangelt, um eine Situation gänzlich erfassen zu können.

Somit bewerten Menschen einander aufgrund ihrer Eindrücke. Hierbei kann es zu Fehlinterpretationen kommen, weil das Selbst jedes Einzelnen ein Produkt vieler gespielter Szenen ist (vgl. Goffman 1969). Der Mensch als Schauspieler seiner eigenen Person?

Doch nicht nur im realen Leben, auch im World Wide Web kommt es zu Rollenkonstruktionen. Im Normalfall konstruieren wir keine gänzlich neue Identität, dennoch stellte Christiane Pönitzsch hierzu die Behauptung auf, dass Medien unsere Identität verändern (vgl. Pönitzsch 2003).

Wir bewegen uns im Internet in einer vermeintlich geschützten Umwelt. Die Informationen, die wir preisgeben, erreichen einen enorm vergrößerten Zuschauerkreis, was zu einer Veränderung der Verhaltensweisen führt. (ebd.). Zwar bedeutet jegliche Sozialisation den Übergang von einer Rolle zur anderen, jedoch beschleunigen die neuen Medien diesen Sozialisationsprozess erheblich (ebd, S. 44 f.).
Auch „spielt [heute] der physikalische Ort […] keine Rolle mehr, wenn es um die Entwicklung von Beziehungen und Rollen geht“ (Pönitzsch 2003, S. 47).
Das heißt, dass wir heutzutage an mehr als einem Ort gleichzeitig sein können. Ein Beispiel: Physisch sind wir zwar in Deutschland, über Instagram, Facebook, Tinder sowie unsere australische Bekanntschaft haben wir aber auch Einblicke in das Leben in Australien und theoretisch der ganzen Welt. Wir erhalten Informationen, ohne direkt anwesend zu sein.

Spitzt man dies zu, so kann man sagen, dass wir Beziehungen zu Menschen entwickeln können, die wir überhaupt nicht kennen. Dies ist vergleichbar mit den Brieffreundschaften, die schon vor Jahrhunderten geführt wurden. Nur dass die Anzahl solcher Beziehungen, dank des Internets, immens gestiegen ist.
Eine kritische Anmerkung könnte sein, „dass die Beziehungen zu fiktiven Bildschirmmenschen die realen nicht ersetzen können und dass all die Kontakte, die wir heute zu vielen Menschen knüpfen, oberflächlich und flüchtig seien“ (Ebd.).
Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass diese „künstlichen Beziehungen“ Einfluss auf unser eigenes Leben und dementsprechend unsere Identität haben können. Zwar bewegen wir uns in scheinbar fiktiven Welten, nehmen diese aber nicht so wahr. Sämtliche Informationen, die wir im Internet erhalten, können einen Einfluss auf unser Handeln in der realen Welt haben. Die Übergänge zwischen fiktiver und realer Welt verlaufen mittlerweile sehr fließend.

Des Weiteren ist es nicht untypisch, dass Menschen, ohne einander persönlich zu kennen, emotionale Beziehungen zueinander aufbauen können. Oftmals glaubt mindestens eine Person, die andere zu kennen (vgl. ebd., S. 48). Nicht grundlos gibt es Fanclubs im Fußball, die Schwärmerei für einen Popstar oder Vorfälle jahrelangen Stalkings.

Schon vor zwanzig Jahren versuchte Gergen, dieses Phänomen anhand der neuen Technologien zu erklären. Zu früheren Zeiten befanden sich viele Menschen in langandauernden Beziehungen. Nach und nach entwickelten wir uns hin zu einer mittleren Gefühlsintensität.

Anfänglich ist die Beziehung zu Menschen, die weit von uns entfernt wohnen und mit denen wir nur über virtuelle Plattformen Kontakt halten können, ziemlich intensiv. Man schreibt sich täglich, ja beinahe stündlich. Daraus kann sich binnen kürzester Zeit eine Art „Online-Beziehung“ entwickeln. Die anfängliche Intensität kann dazu führen, dass wir diesen Menschen Dinge anvertrauen, die wir anderen, uns umgebenden Menschen, nie sagen würden.

Wir verschicken womöglich explizite Fotos, die wir unseren Freunden und Bekannten in dieser Form nicht hätten zukommen lassen (vgl. Gergen 1996). Hierbei verweise ich auch auf den Blogeintrag eines Kommilitonen, welcher sich sehr intensiv mit der Thematik des Sexting, also dem Verschicken expliziter Bilder im Web oder per App, beschäftigt hat.

Gergen sieht den Grund für unser Verhalten in der Annahme, dass uns diese Menschen nicht „gefährlich“ werden können, begründet (vgl. ebd.). Man könnte also festhalten, dass die Distanz, die sich zwischen den beiden Personen befindet, zu Verhaltensweisen animiert, die wir im realen Leben so nicht, oder nur in einer anderen Form, an den Tag legen würden.

Für Goffman stellt der flüchtige Kontakt eine „ideale Projektionsfläche“ (Pönitzsch 2003, S. 48) dar, weil man nicht wirklich weiß, ob das, was wir von dem Gegenüber erfahren und wahrnehmen, der „Wirklichkeit“ entspricht oder speziell für uns inszeniert worden ist.

Gleichwohl können wir diese Oberflächlichkeit nutzen, um eine Selbstinszenierung aufzubauen, die vielleicht nicht gänzlich der Wahrheit entspricht. Etwaige positive Erlebnisse, welche wir aus den medialen Begegnungen ziehen, können zu einer Intensivierung derselbigen führen. Es findet also auf virtueller Ebene ein Prozess statt, der früher nur für reale Begegnungen denkbar gewesen war.

Durch die Begegnungen und Beziehungen mit anderen konstruiert sich unsere eigene Identität (vgl. Pönitzsch 2003). Nun sind wir in Zeiten des Online-Datings mit einer schier unüberschaubaren Vielzahl an Begegnungen und Beziehungen konfrontiert. Allein Tinder verspricht täglich neue virtuelle Begegnungen.

Ergo entwickelt der Nutzer mit der Zeit das Gefühl, dass er täglich einem potentiellen Mr. Right bzw. einer potentiellen Mrs. Right begegnen könnte. Menschen, die ähnliches von uns denken könnten. Die gleichwohl unterschiedliche Vorstellungen, Normen und Werte in sich tragen. Was löst dieses Wissen in uns aus?
Pönitzsch meint, dass wir „nach und nach von den Identitäten anderer bevölkert [werden], was zu einem Verschwinden der Trennung zwischen dem Selbst und den anderen führt“ (Pönitzsch 2003, S. 49).
Wir verinnerlichen somit die Werte und Vorstellungen anderer, uns unbekannter Personen. Folglich tragen wir die unterschiedlichsten Moralvorstellungen, Meinungen etc. in uns und lassen zu, dass dies einen enormen Druck auf uns ausüben kann. Das alles geschieht, weil wir geneigt sind, die unterschiedlichen Meinungen zu vereinigen und leben zu wollen (vgl. ebd.).

Diesem ziemlich negativen Bild kann Gergen auch einige positive Aspekte abgewinnen. Das digitale Zeitalter, mitsamt der Begegnung unzähliger Menschen und Informationsquellen, bietet auch eine Vielzahl neuer Perspektiven. Eine allgemeingültige Weltanschauung, auch in der Liebe, gibt es nicht mehr. Prinzipiell kann jeder alles tun, oder eben auch nicht.

Alles existiert nebeneinander, und wir haben immer die Möglichkeit, die für uns beste Option herauszuholen. Auch ermöglicht eine Vielzahl menschlicher Kontakte, dass wir die für uns positiven herausziehen und uns somit nur mit Menschen umgeben, die uns wirklich gut tun (vgl. Gergen 1996).

Doch nicht nur unsere Selbstdarstellung steht unter dem Einfluss des Web 2.0. Auch unser Intimstes, nämlich unsere Sexualität, findet mittlerweile auch online statt. In der Sexualwissenschaft stellt man sich daher seit Längerem die Frage, ob und wie weit das Internet Einfluss auf unsere Sexualität haben kann. Hierbei stehen vor allem pornographische Inhalte sowie Sex-Chats im Fokus der Wissenschaft und sollen daher im folgenden Kapitel genauer unter die Lupe genommen werden. Selbstverständlich – aufgrund der Komplexität der Thematik – können dabei nicht alle Aspekte angesprochen werden.

Web 2.0 = Sex 2.0?
„Das Internet ist zweifellos das größte Warenhaus der Sexualität, das je auf der Welt existierte“ (Dannecker 2009, S. 31).
Ein Warenhaus, ähnlich wie Amazon, das ein Gefühl von Unendlichkeit und permanenter Verfügbarkeit erweckt. Ein Sortiment, welches an Breite und Tiefe nicht zu überblicken ist. Jeder Interessierte kann sich pornographische Bilder und Videos direkt ansehen oder herunterladen.

Besonders eindrucksvoll und weitverbreitet sind die kostenlos zugänglichen, über Werbung finanzierten Videoportale, in denen Laien ihre eigens produzierten Sexfilme einstellen. Spitzenreiter ist die Seite Xtube mit 640 Millionen Besuchen im Monat (vgl. Ayyadi 2016).

Im Durchschnitt verbringt ein User 10 Minuten auf einer solchen Seite – nur 8 Minuten weniger als auf dem Videoportal Youtube (vgl. ebd.). Sehr zum Leidwesen der Offline-Branche, weil die pornographischen Videos mittlerweile in den eigenen vier Wänden, welche als Home-Studios fungieren, gedreht werden. Somit verliert der Einsatz professioneller Darsteller in kommerziellen Studios zunehmend an Bedeutung.

In der Folge wird der User immer mehr zum Prosumenten, ein Neologismus aus Konsument und Produzent. Das bedeutet, dass der User sowohl als Produzent als auch als Konsument auftreten kann. Eine Trennung zwischen Pornographie-Herstellern und Pornographie-Konsumenten ist mittlerweile obsolet.
Diese „körperlich-sexuellen Selbstinszenierungen könnten zu dem Schluss verleiten, [dass] das sexuelle Ideal im Netz […] exhibitionistisch sei“ (Dannecker 2009, S. 32).
So gibt es einzelne Personen oder Paare, die sich für Webcam-Portale beim Geschlechtsverkehr filmen lassen. Diese Filme können live und in Echtzeit von den Nutzern angeschaut werden. Dannecker schlägt eine andere Interpretation der Lust vor:
Seines Erachtens nach handelt es sich um „Reinszenierungen der eigenen Sexualität, die auf den imaginierten Betrachter im Netz und dessen sexuelle Erregung zielen.“ (ebd.).
Die Sexualität, die für das Web inszeniert wird, nimmt sozusagen ein zweites Leben an, an dem die Produzenten gleichwohl partizipieren.
Die „imaginierte Beziehung der Hersteller sexueller Bilder zur Lust der Betrachter im Internet dürfte […] auch die eigentliche Lust beim Verfertigen solcher Bilder ausmachen.“ (ebd.).
Pornographie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Vor allem junge Erwachsene und Jugendliche wenden sich der Internetpornographie zu, so das Ergebnis einer Studie, die von der kalifornischen Barna Group in Auftrag gegeben wurde (vgl. Barna Group 2016).

Dabei wurden 3000 Amerikaner zu ihrem Konsumverhalten befragt. Hierbei gilt es anzumerken, dass für viele Amerikaner Pornographie mehr Funktion als Form sei, das heißt, dass alles, was der sexuellen Erregung diene, als Pornographie verstanden werde (vgl. Ebd.). Neugier, Langeweile, aber auch Lust animieren Jugendliche und junge Erwachsene zur Nutzung internetpornographischer Inhalte, so die Experten.

Personen zwischen 25 und 50 Jahren nutzen Internetpornographie eher, um in Stimmung zu kommen oder Sextipps zu erhalten. Ferner sei auffällig, dass mittlerweile nur noch wenige Nutzer ein Schuldempfinden haben, sobald sie Internetpornographie nutzen. Hier wenden die Experten einen überspitzt anmutenden Vergleich an, was wohl der Publicity ihrer Studie dienlich sein soll.

So werden die jungen Erwachsenen gefragt, ob es schlimmer sei, sich pornographische Inhalte im Web anzusehen, als auf Recycling zu verzichten. 56 % der Befragten empfanden es demnach als gravierender, auf Recycling zu verzichten. Dem gegenüber stehen 32 %, die das Betrachten pornographische Inhalte als schlimmer einstufen.

Schrieb man die Domäne der Pornographie früher eher den Männern zu, sind es heute auch junge Frauen unter 25 Jahren, die im Internet pornographische Inhalte konsumieren. 33 % suchen mindestens einmal im Monat aktiv nach Pornos – bei den Männern sind es 81 % (vgl. ebd.). Die internetbasierte Sexualität ist somit zu einem festen Bestandteil, gar einem „habitualisierten sexuellen Verhalten“ (Dannecker 2009, S. 33) geworden.

In dem vorherigen Kapitel wurden Flirtportale, die zur Vermittlung fester Partnerschaften dienen, bereits angesprochen. Ähnliche Portale, nur wesentlich freizügiger, existieren für die Aufnahme sexueller Kontakte. Auch hier erstellt sich der Sexportal-User ein Profil, welches explizite Fotos, die Beschreibung der sexuellen Vorlieben sowie sexuellen Erfahrungen enthält.

Es existiert eine unüberschaubare Anzahl solcher Portale, meist zugeschnitten auf die jeweiligen sexuellen Neigungen der User. Immer wieder gibt es Rankings, die die vermeintlich besten Portale präsentieren. Kommt es zu einem gemeinsamen Chat, werden die sexuellen Vorlieben sowie Abneigungen abgeglichen. Diesem Ausloten wird, unabhängig von der intendierten realen Begegnung, eine außerordentliche Befriedigungsqualität zugeschrieben (vgl. Dannecker 2009). Sexuelle Fantasien, die im realen Leben womöglich abwegig erscheinen, können sich in den Chats realisieren. Man kann auch sagen, „dass das Netz sexuelle Wünsche generiert“ (Dannecker 2009, S. 37).

Das Web 2.0 dient jedoch nicht nur zur Anbahnung sexueller face-to-face-Begegnungen, sondern „bietet auch Raum für eine in sich abgeschlossene, im Orgasmus mündende Sexualität.“ (ebd.). Man spricht hierbei von Cybersex.
Gemäß Döring handelt es sich dabei um „computervermittelte zwischenmenschliche Interaktionen, bei denen die beteiligten Personen offen sexuell motiviert sind, also sexuelle Erregung und Befriedigung suchen, während sie einander digitale Botschaften übermitteln“ (Döring 2004, S. 178).
Interessant erscheint an dieser Definition, dass Döring von zwischenmenschlichen Interaktionen spricht, obwohl das Gegenüber nicht direkt anwesend ist. Dennoch, anders als beim fantasievollen Onanieren auf eine pornografische Vorlage, existiert ein reales, permanent agierendes Gegenüber und es kommt zur wechselseitigen Sexualisierung (vgl. Dannecker 2009).

Cybersex dient, anders als das sexuelle Erleben im realen Leben, vorrangig der sexuellen Erregung. Die sexualisierten Inhalte, die man im Chat austauscht, münden meist in der Masturbation. Jedoch, hier der Unterschied zum realen Leben, handelt es sich nicht um autonome Erotik im buchstäblichen Sinne, sondern um virtuelle Realität, weil der Chat-Partner beim Akt scheinbar anwesend zu sein scheint (vgl. ebd.).

Hinsichtlich des Selbst lassen sich zwischen der realen und virtuellen Welt Interdependenzen festhalten. Das Selbst der realen Welt und das Selbst der virtuellen Welt sind zwar verbunden, jedoch keinesfalls identisch. Linguistisch betrachtet handelt es sich bei Cybersex um Chat-Kommunikation. Diese wiederum wird von ihren Nutzern dem Gespräch zugeordnet und nicht den Texten, obwohl beim Chatten eigentlich geschrieben wird und die Chat-Partner räumlich voneinander getrennt sind (vgl. Wilde 2002).

Man kann die Sexualität auch unter dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit betrachten. Beim Cybersex betritt eine reale Person, mit ihrer je eigenen sexuellen Identität, einen virtuellen Chatroom. Der eklatante Unterschied zum realen Leben liegt darin begründet, dass es im Chat zu einer Entmaterialisierung der eigenen Person kommt. Das bedeutet, dass der Chatter nicht als sichtbarer und greifbarer Körper anwesend ist, sondern seine Identität über das eigene Profil und die im Chat geschriebenen Texte konstruieren muss (vgl. Misoch 2004).

Beim Eintritt in die Gesprächssituation wird die reale Person in weiten Teilen durch ihr virtuelles Ego abgelöst (vgl. Dannecker 2009). Dies geschieht vornehmlich durch die Nutzung eines Nicknamens, also eines selbst gewählten Pseudonyms, unter dem man im Internet auftritt. Das Abstreifen des Namens kann als Eintrittskarte in die virtuelle Identität betrachtet werden und führt zu der „mit dem Internet imaginierten Anonymität, die tatsächlich gar nicht existiert“ (Dannecker 2009, S. 40 & Interview).

Die User tätigen im Chatroom keine wirklichen Handlungen, sondern beschreiben diese nur. Diese Kommunikation kann man mit dem Schreiben eines Drehbuches vergleichen – „einem Drehbuch, an dem mehrere Personen gemeinsam arbeiten und ihre eigenen Rollen gestalten“ (Pönitzsch 2003, S. 85).

Die Situation gestaltet sich demnach ähnlich der Bühnenaufführung Goffmans, jedoch befinden sich die Akteure weder am selben Ort, noch sehen sie einander. Offensichtlich kommt es im Chatroom zu einer Vermischung von Realität und Fiktion. Dadurch ist es den Chattern gestattet, Fantasien mit anderen auszuleben, ohne sich den eventuellen Gefahren der Realität aussetzen zu müssen.

Die reale Sexualität unterliegt somit einer gewissen Hinfälligkeit, weil die Scham und Unschuld, die in der Realität existieren, beim Cybersex ihre Wirkung verlieren können. Sexuelle Vorlieben, Wünsche oder Neigungen, die im realen Leben bisher nie zur Sprache kamen, können im Chat geäußert werden. Dies funktioniert, weil man einerseits auf Gleichgesinnte trifft und andererseits die Anonymität des Chats genießen kann.

Viele User empfinden das Abenteuer Chat als überaus reizvoll, auch weil die Risiken begrenzt erscheinen. Man genießt Anonymität, tauscht sich mit Gleichgesinnten aus und kann – sofern dies nötig erscheint – den Computer jederzeit ausschalten. Das Web 2.0 ermöglicht das, was in der realen Welt oft nur schwerlich zu erreichen scheint: Sexuelle Befriedigung ohne Schuld und Scham.

Fazit

Zurück zur Eingangsfrage: Verändert das Internet unsere Sexualität? Eine Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist. Gewiss, im letzten Jahrzehnt hat das Internet eine immer größere Bedeutung für die Suche nach dem Partner und die Sexualität im Allgemeinen gewonnen. Für einen großen Teil der Bevölkerung ist die internetgestützte Sexualität, sei es beim Cybersex oder dem Konsum von pornographischen Inhalten, zu einem festen Bestandteil geworden.

Daher lautet die Kernthese des deutschen Sexualwissenschaftlers Martin Dannecker, dass im Zentrum jeder internetgestützten Sexualität die Suche nach sexueller Erregung steht (vgl. Interview Dannecker 2011). Faszinierend sei für viele User vor allem, dass sie sich in einem sexuellen Zwischenraum befinden – irgendwo zwischen Fantasie und Realität.

Wirken sich diese Erfahrungen in virtuellen Räumen auch auf die Sexualität in der realen Welt aus? Wie oben angesprochen, generiert das Internet sexuelle Wünsche. Jene sexuellen Wünsche und das darauffolgende sexuelle Handeln bedingen sich in aller Regel gegenseitig. Fantasien und Wünsche beeinflussen unser sexuelles Handeln, genauso wie unsere sexuellen Handlungen Auswirkungen auf unsere Fantasien haben können.

Hinsichtlich der in der virtuellen Welt praktizieren Sexualität lässt sich sagen, dass diese nicht nur bloße Fantasterei bleibt, sondern in realer Sexualität, nämlich dem Orgasmus, enden kann. Inwieweit die im Internet praktizierte Sexualität eine mit Lust assoziierte Erinnerung hinterlässt, welche sich auf die Sexualität im realen Leben auswirken könnte, lässt sich nur erahnen. Dennoch, da ist sich Dannecker sicher, geht vom Cybersex eine enorme Befreiung aus, welche sich auf die reale Alltagspraxis der Menschen auswirken kann (vgl. Interview Dannecker 2001).

Schließlich ermöglicht das Web 2.0, die von Verboten und Hemmungen gekennzeichnete Sexualität zu beleben. Selbstverständlich dürfen problematische Erlebnisse und Erfahrungen, sei es durch Internet-Sexsucht, Kinderpornographie oder misslingende Sex-Chats, nicht außer Acht gelassen werden. Psychotherapeuten müssen sich heutzutage mit den Gefahren und vor allem den Versuchungen, denen Menschen im Internet ausgesetzt sind, zunehmend befassen. Dennoch – man sollte einer Gefahr der Stigmatisierung internetgestützter Sexualität entgehen, gerade weil Pornographie und Sexualität zu einem festen Bestandteil des alltäglichen Medienkonsums geworden sind. 

Literaturquellen:
  1. Dannecker, Martin: Verändert das Internet die Sexualität?, in: Becker, Sophinette / Hauch, Margret / Leiblein, Helmut (Hrsg.): Sex, Lügen und Internet. Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven, Gießen, 2009, S. 31 ff. 
  2. Döring, Nicola: Cybersex – Formen und Bedeutungen computervermittelter sexueller Interaktionen, 2004, in: Richter-Appelt, Hertha & Hill, Andreas (Hrsg.): Geschlecht zwischen Spiel und Zwang, Gießen, S. 178 ff.
  3. Gergen, Kenneth J.: Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben, Heidelberg 1996. S. 113 ff.
  4. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag, München, 1969, S. 217 ff.
  5. Kaufmann, Jean-Claude: Sex@amour. Wie das Internet unser Liebesleben verändert, Konstanz 2010. S. 8.
  6. Misoch, Sabina: Identitäten im Internet. Selbstdarstellung auf privaten Homepages, Konstanz 2004. S. 131.
  7. Pönitzsch, Christiane: Chatten im Netz. Sozialpsychologische Anmerkung zum Verhältnis von Internet und Sexualität, Marburg 2003. S. 48 ff.

Onlinequellen:
  1. Ayyadi, Kira: YouPorn, Pornhub und Brazzers – die Giganten, 2016, in: Focus Online, 24.02.2016, URL: http://www.focus.de/finanzen/news/porno-plattformen-im-internet-youporn-pornhub-und-brazzers-die-giganten_id_4601105.html (Zugriff am 25.02.2016).
  2. Barna Group: Teens & Young Adults Use Porn More Than Anyone Else, 28.01.2016, URL: https://barna.org/research/culture-media/research-release/teens-young-adults-use-porn-more-than-anyone-else (Zugriff am 26.02.2016).
  3. Dannecker, Martin (2011). Persönliches Interview für Die Weltwoche, geführt von Barbara Lukesch (Die Weltwoche) und Malte Jäger (Bild). 12.05.2011, URL: www.internetsexualitaet.de/files/wew_20110512_0_0_48.pdf (Zugriff am 29.02.2016).
  4. Lenz, Karl: Erving Goffman. Werk und Rezeption, 1991, in: Hettlage, Robert: Erving Goffman. Ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, URL: http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_fakultaet/is/mikro/lenz/pub/goffman/25-94.pdf (Zugriff am 18.02.2016).
  5. Sex-Dating-Portale.net: Sexdates: Die 6 besten Sex Portale und Sexdating Tipps, URL: http://www.sex-dating-portale.net/ (Zugriff am 29.02.2016).
  6. Wilde, Eva: Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Chat-Kommunikation aus linguistischer Sicht. Seminararbeit. Bern, 2002, URL: http://www.chat-bibliography.de/papers/wilde.pdf (Zugriff am 29.02.2016).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen