Was kann ich wissen?Während hier die Betonung auf dem was liegt, muss die Frage nun aber genauso lauten: ”Was kann ich wissen?”, denn das Repertoire an Fakten und Meinungen im Internet steigt stetig und gewinnt damit an Unübersichtlichkeit, so dass längst kein einfacher Zugang, wie früher ein Gang in die Bibliothek, mehr zu gewährleisten ist. Es ist aber auch berechtigt, die Frage so zu betonen: Was kann ich wissen? Mehr denn je fordert das Internet den Beitrag Einzelner, um ihn gegen andere Positionen auszuspielen und damit die Suche nach der Wahrheit voranzutreiben. Zuletzt stellt sich aber auch die Frage, was man wissen kann. Denn wie kann man sich sicher sein, dass man etwas wirklich weiß, wo sich im Internet zu jedem Thema Menschen finden, die alle von sich behaupten, das meiste zu wissen und kein verlässlicher Experte mehr auszumachen ist?
Ohne dass wir es gemerkt haben, greift das Web 2.0 unseren Wissensbegriff an, verändert seine Struktur, seine äußere Form und nicht zuletzt die Zugänge zu ihm. Gleichzeitig werden neue Bewertungsmaßstäbe eingeführt. In seinem Buch “Too big to know. Rethinking knowledge now that the facts aren’t the facts, experts are everywhere, and the smartest person in the room is the room” befasst sich der Internetphilosoph David Weinberger genau mit diesem Aspekts des Internets und rüttelt damit an den Grundfesten der Bildung.
Das ist ein guter Anlass, um das Bildungssystem in den Blick zu nehmen, denn wenn der Wissens- und Bildungsbegriff hinsichtlich seiner Veränderungen betrachtet wird, kann das Bildungswesen nicht unberührt bleiben. Es gilt, Thesen und vorsichtige Prognosen für das deutsche Bildungssystem abzuleiten und dessen Entwicklung aus übergeordneter Perspektive zu analysieren. Im Folgenden werden in Form von Denkanstößen Mutmaßungen darüber dargestellt, womit sich in Anlehnung an Weinbergers Gedanken Bildungspolitiker möglicherweise in Zukunft auseinandersetzen müssen.
Denkanstoß 1, oder: Alle Lehrbücher ins Altpapier?
Ein Blick in die Klassenzimmer Deutschlands lässt durchscheinen, dass Lehrbücher immer noch ein Hauptbestandteil des Unterrichts sind, wobei das Kollegium einer Schule in jedem Fach Lehrwerke verschiedener Verlage miteinander vergleichen, analysieren und bewerten muss. Dabei stimmen die Inhalte in den verschiedenen Büchern eines Faches zwar an den Lehrplan angelegt überein, dennoch spiegelt sich das didaktische und methodische Wissen der Autoren in unterschiedlicher Art und Weise wider. Lehrer wählen also ein Buch aus, aus welchem in den darauffolgenden Jahren mehrere Klassen lernen. Das ist so lange kein Problem, bis die Didaktikforschung zu neuen Erkenntnissen gelangt oder der Lehrplan überdacht wird - dann müssen neue Lehrmaterialien her.
Nie zuvor jedoch mussten sich Lehrbuchverlage außer hinsichtlich des Layouts, der Struktur und den Zusatzmaterialien auch hinsichtlich ihrer Internetpräsenz mit anderen Verlagen messen und noch dem stetigen Wissenszuwachs der Gesellschaft gerecht werden. Das mag für Sprachbücher weniger kompliziert zu sein als für Lehrbücher, die (scheinbar) faktische Erkenntnisse der Wissenschaft beinhalten.
Darüber hinaus könnte man nach der Lektüre Weinbergers anzweifeln, ob Bücher als Wissenstransporter überhaupt noch Glaubwürdigkeit genießen. Denn ein Problem, das durch das Internet verkompliziert wird, ist die Bewertung von Wissen und die Einordnung seines Wahrheitsgehalts. Zunächst betrifft das renommierte Wissenschaftler, die als Experten auf einem Gebiet gelten und sich auf einmal einer Konkurrenz, bestehend aus selbsternannten Experten aus aller Welt, die im Internet ihr Wissen über dasselbe Fachgebiet preisgeben, gegenübersehen. Diese konnten bislang getrost als verlässliche Wissensquelle fungieren und ihre Erkenntnisse in gedruckter Form weiterlehren - was aber nun, wenn im Internet eine Fülle an ergänzendem oder widerlegendem Wissen zu finden ist, welche von den Lesern im Internet je nach gegebenen Bewertungen anderer Internetuser ebenso verlässlich erscheint (vgl. Weinberger 2011, S.xii)?
Das Problem von Büchern ist in diesem Fall, dass sie Wissenschaftsdiskurse und Fortschritte nicht dokumentieren können und in ihrer gedruckten Form ein statischer Ausschnitt eines augenblicklichen Wissenstandes sind, welcher zudem auf dem Wissen weniger Menschen beruht. Weinberger bezeichnet Bücher als “nonconversational, one-way medium” (Weinberger 2011, S.95), in welchem Gedanken, einer zum anderen führend, linear aneinandergereiht sind. Da Bücher über mehrere Jahrhunderte das Hauptmedium der Wissensvermittlung waren, schließt er daraus, dass man weithin angenommen habe, dass Wissen dieselbe Struktur haben sollte, wie sie in Büchern dargestellt wird.
Im Vergleich dazu scheint im Internet dargestelltes Wissen allein deshalb wahrer, weil direkte Kommentare und Bewertungen viel eher ein dynamisches und aus diesem Grund für viele Menschen vielleicht verlässlicheres Bild von Wissen zeichnen, weil es in dieser Dynamik dem schnelllebigen Zeitgeist ähnelt. Nehmen Schüler heutzutage ihre Lehrer überhaupt noch ernst, wenn diese dafür plädieren, das Wissen aus Büchern zu entnehmen? Besteht überhaupt Verständnis dafür, dass Wissen gelernt werden muss, wenn es doch in Sekundenschnelle überall verfügbar ist? Genau diese Frage führt zu
Denkanstoß 2, oder: Revolution des Lehrplans?
Weinberger konstatiert, dass durch das Internet Wissen freier und schneller zugänglich ist als jemals zuvor. Wer sich also im Internet bewegt, wird von Wissen überflutet. Dadurch sieht er das Verständnis von Wissen, als die Reduktion dessen, was wir wissen müssen, als überholt an. Mit den Theorien Clay Shirkys begründet er hier allerdings die ernste Lage nicht durch “information overload” (ebenda) sondern durch einen “filter failure”, also einen Mangel an Einschränkungen dessen, was wir nicht unbedingt wissen müssen. Dies sei früher durch Zeitungen, Verlage etc. geschehen, also durch verlässliche Experten, während es heute den sozialen Netzwerken überlassen wird, herauszudestillieren, was wirklich wissenswert ist. Während in dem ersten Fall die “Zensur” einer Elite vorbehalten ist, übernimmt das im zweiten Fall der Bekanntenkreis, der durch Posts zu bestimmten Themen und Nachrichten in sozialen Netzwerken darauf aufmerksam macht, was es für Neuigkeiten zu wissen gibt (vgl. Pannen 2012, S. 58). Zur Debatte stehen politische Ereignisse und Entwicklungen oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse, über die sich die Nutzer von sozialen Netzwerke austauschen. Man kann annehmen, dass diese vor allem von Jugendlichen automatisch für interessanter gehalten werden, als das Wissen, dass Lehrer ihnen zu vermitteln versuchen, allein schon deshalb, weil sie direkt aus der peer group kommen. Grundsätzlich liegt darin die große Chance, selbständige Wissensaneignung auf einfache Art und Weise zu ermöglichen, in der Realität kann das aber andere Wege nehmen.
Ein Beispiel: Ein Jugendlicher liest über einen Post auf Facebook etwas über einen Sachverhalt und sein Interesse daran wird geweckt . Entweder er liest den geposteten Artikel und sein Wissensdurst ist gestillt oder aber, er will sich selbständig weiter darüber informieren. Wenn er dann im Internet recherchiert, so wird er zunächst untergehen in einer Informationsflut. Er hat nun folgende Möglichkeiten: erstens, er klickt das erste erscheinende Suchergebnis an. Zweitens, er wählt die Überschrift, die ihn aufgrund des Sprachniveaus, der Aufmachung etc. am meisten anspricht. Drittens, er sucht gezielt auf einer Seite, die ihm bekannt ist und deshalb zusagt. Alle drei Möglichkeiten bergen die Gefahr der einseitigen Information, diese kann unwahr, ungenau, unseriös und parteiisch sein. Hierzu zitiert Weinberger Studien des US-amerikanischen Politikers Cass Sunstein, der die These aufstellt, dass die Menschen im Internet besonders interessiert seien an den Meinungen, die den ihren ähnlich sind, was dazu führe, dass ihre Ansichten extremer würden. Es findet also eine Gruppenpolarisierung statt, die nicht zuletzt dadurch begünstigt wird, dass die Äußerung extremer Meinungen im Internet eine gute Strategie darstellt, um Aufmerksamkeit zu erregen (vgl. Weinberger 2011, S. 82 ff.).
Dieses Phänomen dürften auch Lehrer zu spüren bekommen. Besonders drastisch wäre dies zum Beispiel in einem Fall, in dem Schüler sich intensiv mit Verschwörungstheorien befasst hätten, die durch ihre scheinbar schlagende und einfach nachvollziehbare Logik besonders gern für bare Münze genommen werden. Hierbei manifestieren sich extreme Meinungen im Schafspelz von Faktenwissen. Das stellt Lehrer vor die schwierige Aufgabe, mit neutralen Fakten und neutralen Urteilen Schadensbegrenzung zu betreiben. Zwar hat der Jugendliche dann die Eigeninitiative ergriffen, sich zu bilden, ob das Ergebnis aber “gebildet” genannt werden kann, ist nicht zwangsläufig gewährleistet. Zudem mag es wohl einfacher sein, Wissen dorthin zu vermitteln, wo Nicht-Wissen vorhanden ist, als dorthin, wo extreme oder in anderer Weise falsche oder einseitige Überzeugungen vorhanden sind. Naiv davon auszugehen, dass das Gehirn der Schüler ein leeres Papier ist, dass mit Wissen beschrieben werden kann, ist heutzutage mehr denn je hinfällig. Vielmehr müssen Lehrer darauf vorbereitet sein, dass die Schüler mit mehr Vorahnungen oder Vorstellungen in die Schule kommen als bisher, aber dass dies eben auch bedeuten kann, dass die Vermittlung von Wissen dadurch nicht immer nur erleichtert wird. Damit werden an die Bildungspolitik neue Herausforderungen gestellt, die zum einen den Lehrplan und zum anderen die Rolle des Lehrers betreffen.
Der Lehrplan muss unter dem Aspekt überdacht werden, dass er den bereits erwähnten “filter failure” kompensieren kann. Dafür muss er zunächst einmal noch stärker kompetenz- statt wissensorientiert ausgerichtet sein, da sich das Wissen in einem nie dagewesenen Tempo verändert. Es wird nicht mehr ausreichen, sinnvolle Internetrecherche zu vermitteln, vielmehr müssten den Schülern Kompetenzen vermittelt werden, die sie befähigen, Webeinträge zu bewerten. Hierfür müssten aber erst einmal derartige “Handwerkszeuge” gefunden werden, an die zudem noch der Anspruch gestellt werden müsste, dass sie allgemeingültig sind. Mehr denn je wird wichtig, den Schülern Urteils- und Reflexionsfähigkeit zu vermitteln, vor allem in sozialwissenschaftlichen Fächern.
Dies kann zudem nur realisierbar sein, wenn auch der Wissenskanon neu festgelegt wird, da ihm die Aufgabe zukommt, zugleich Basis und Rahmen für das ständig fortschreitende und sich verändernde Wissen zu sein. Um diesem Anspruch zu genügen, muss er ausreichend komplex sein und darf gleichzeitig nicht so reduziert werden, dass er das zu Wissende auf eine vorgeprägte Weise künstlich begrenzt. Wie aber soll dieser Stoffkanon ausgemacht werden?
Denkanstoß 3, oder: Werden Lehrer zunehmend Legitimationsprobleme haben?
Im ersten Denkanstoß wurde bereits angedeutet, welche Schwierigkeiten Bücher zunehmend haben werden, als Medium von Wissen weiterhin Akzeptanz zu finden. Zudem wurde angeschnitten, dass auch Wissenschaftler immer mehr damit konfrontiert werden könnten, dass ihre Arbeit an Wert verliert. Anders gesagt: die Exklusivität ihrer Arbeit geht verloren, wobei Weinberger betont, dass das nicht bedeute, dass man keine professionellen Wissenschaftler mehr brauche, der Abstand zwischen dieser Gruppe und der der “Amateure” verringere sich jedoch (vgl. Weinberger 2011, S. 131). Das zieht die Frage nach sich, auf welche Quellen Bezug genommen werden soll, wenn es darum geht, Wissen auszumachen und weiterzuvermitteln. Eine Frage, die auch für die Bildungspolitik von Belang sein wird, nicht nur hinsichtlich eines einheitlichen Stoffkanons, sondern auch, und das steht damit direkt in Verbindung, hinsichtlich der Lehrerprofessionalität.
Lehrer könnten sich damit auseinandersetzen müssen, dass ihr Beruf, zumindest in der heutigen Form, hinsichtlich seiner Legitimation zur Debatte stehen könnte. Denn Lehrer sind in einer ihrer Hauptaufgaben für die Weitergabe von Wissen zuständig. Nur: bislang war dieses Wissen von Grenzen, seien sie noch so weitgefasst, umgeben. Das heißt, es besaß in seiner unendlichen Größe eine Form, die von verlässlichen Autoritäten vorgezeichnet wurde. Wie Weinberger nach Russell Ackoff konstatiert, ließ Wissen sich früher als Pyramide darstellen: Daten bieten die Grundlage für Informationen, die aus Daten extrahiert werden und zu Wissen führen, Wissen führt zu Verständnis und Verständnis ist das Endprodukt (ebenda, S.1). Weinberger stellt demgegenüber die These auf, dass Wissen nicht von seinem “new hyperlinked context of conversation, debate, elucidation and denigration” (Weinberger 2012, S. 118) losgelöst betrachtet werden kann, sondern dass Wissen genau dadurch verkörpert wird. Dies bedeute auch, dass das, was Lehrer vor Klassen unterrichten, nicht als Wissen zu bezeichnen ist. Damit bringt Weinberger vielleicht den größten Stein ins Rollen, denn sobald man sich auf ein Gedankenexperiment einlässt und die Auswirkungen dieser Feststellung auf das Bildungssystem durchspielt, wird deutlich, wie sich das eigene Weltbild immens ändern muss.
Muss also der Lehrerberuf überdacht werden oder genügt eine Verschiebung der Lehrerrolle hin zu einem Lernbegleiter, der die Schüler lehrt, sich durch das permanente Angebot von Wissen zu navigieren? Wie sollen Lehrer dann ausgebildet werden, wenn eine Ausbildung voraussetzt, dass man ebenfalls auf Lehrer angewiesen ist? Den radikalen Gedanken, dass dies auch dazu führen könnte, dass man grundsätzlich keine institutionalisierte Bildung mehr bräuchte, möchte man angesichts der Absurdität nicht unbedingt zu Ende führen. In einem Wort würde das eine Art Bildungsanarchie hervorrufen. Aus heutiger Sicht scheint das vielleicht noch zu sehr außerhalb unserer Vorstellungskraft liegend, so dass zunächst ein kleiner entscheidender Schritt im Modernisierungsprozess von Bildung gegangen werden muss. Dies beträfe dann zuerst die Rolle des Lehrers, in welcher mehr denn je die Aufgabe betont wird, durch den Wissensdschungel zu führen. Weitergedacht stellen sich aber auch Konsequenzen für das gesamte Schulsystem.
Denkanstoß 4, oder: Passt ein linear aufgebautes Schulsystem noch zu der im Web dargestellten Struktur des Wissens?
In unserem Schulsystem sind die Inhalte mehr oder weniger klar strukturiert, so dass der Stoff, der in einem Schuljahr vermittelt wird, jeweils die Basis für den Stoff des folgenden Schuljahres bildet. Allerdings bedeutet das auch, dass der Lernfortschritt der Schüler in streng lineare Bahnen gelenkt ist und nur selten Raum für eine Wissenskonstruktion ist, die einer Wissensverästelung in verschiedene Richtungen gleichkommt. Wie jeder Lehrer aber aus der Praxis weiß, wirft ein Thema bei den Schülern oft verschiedene Fragen auf. Jeder Schüler gliedert den neu gelernten Stoff an sein individuelles Vorwissen an und findet einen anderen Aspekt des Themas interessant. Nicht selten werden Fragen gestellt, deren Beantwortung einen Wissenszuwachs bedeuten könnten, die aber nicht ausreichend beantwortet werden können, da sie vielleicht eine zu starke Abweichung der vorgezeichneten Struktur der Stoffvermittlung bedeuten. Das Schulsystem scheint sich an Büchern zu orientieren, die dasselbe Problem haben, da sie nunmal an eine Form gebunden sind, die es nur erlaubt, den Inhalt linear darzustellen und zu begrenzen. Sie waren jahrhundertelang ausschlaggebend für unsere Vorstellung davon, wie Wissen geformt sein soll. Weinberger fasst das so zusammen:
“We’ve had to build a long sequence of thoughts, one leading to another, because books put one page after another. Long-form thinking looks the way because books shaped it that way. And because books have been knowledge’s medium, we have thought that that’s how knowledge should be shaped.” (Weinberger 2012, S. 95)Das Web hingegen präsentiert Wissen in anderer Form und zwar in einer, die einer unvorstellbar gigantischen Mindmap, “a network of thought of any length and form” (ebenda S. 105), gleicht - laut Weinberger vielleicht eine bessere Art, die Welt zu verstehen (vgl. ebenda). Dass das Internet durch diese “nonlineare (Hypertext)Struktur” (Schäfer 2001, S.99) die Möglichkeit bietet, individuelle Lernwege zu gehen, ist durchaus keine neue Erkenntnis (vgl. ebenda ff.). Auch die Begriffe “eigenverantwortliches Lernen” oder “selbstgesteuertes Lernen” sind in didaktischen und schulpädagogischen Kontexten omnipräsent. Die Chancen des Internet bestehen darin, dass dies auch außerhalb der Schule individuell stattfinden kann, die Realität zeigt jedoch, dass das Internet je nach Milieu und Schulart nicht gleich stark für den Wissenserwerb genutzt wird. Schüler von geringerem Bildungsniveau nutzen das Internet eher selten selbständig als Lernquelle (ebenda, S. 116 ff.).
Ob im Schulalltag staatlicher Schulen Raum gegeben wird, diese individuellen Wege zu gehen, ist stark zu bezweifeln. Dabei könnte auch aus lernpsychologischer Sicht durchaus wünschenswert sein, das Schulsystem stärker darauf auszurichten, dass Lernen dort vom Grundprinzip ähnlich aufgebaut ist wie die selbständige Informationssuche im Internet. Die Struktur des Internet würde auf Bildungsstätten übertragen werden, mit dem Unterschied, dass das Wissen hier nicht nur in Hypertextform zugänglich wäre, sondern auch didaktisch aufbereitet wäre. Den Schülern würde in anregender Lernumgebung die Möglichkeit gegeben, zu lernen, was in irgendeiner Form ihr individuelles Interesse geweckt hat und sie würden dabei auf etwas stoßen, was sie weiter interessiert. Sie könnten sich darüber weiter informieren und dabei wieder auf etwas für sie Interessantes stoßen und so weiter, so dass damit Kettenreaktionen angestoßen würden, die in alle möglichen Richtungen ausstrahlen könnten.
Die Funktion der Lehrer wäre neben der Funktion als Lernbegleiter, didaktisches Material so zur Verfügung zu stellen, dass die Schüler in ihrer Lernumgebung so auf Wissensuche gehen könnten, wie es auch im Internet möglich ist. An einem Beispiel erklärt: In Biologie befasst sich ein Schüler mit Echsen, weil das seine Lieblingstiere sind. Es stehen ihm Lernmaterialien zur Verfügung, mit welchen er sich über die verschiedenen Gattungen von Echsen informieren kann. In einem Lexikoneintrag fällt ihm die Art der Komodowarane auf, eine besonders große Echsenart. Allerdings gibt es diese nur auf kleinen Inseln in Indonesien. Nun würde er diese gerne in Wirklichkeit sehen, weiß aber nicht, wo Indonesien ist. Gäbe es bereits eine Zusammenstellung didaktischer Materialien über Asien, könnte direkt bei den Materialien über Echsen ein Hinweis hinterlegt sein, in welcher Abteilung der Schule der Schüler etwas über die Verbreitungsgebiete herausfinden kann.
Dies wäre dann quasi eine nachgespielte Internetrecherche mit dem Unterschied, dass sie sich nicht auf Texte, Videos etc. beschränkt, sondern abwechslungsreiche Methoden und Interaktion mit einschließen würde. Nun ist es ein großer Aufwand, alle miteinander durch Verweise zu verknüpfen, aber hier würde dann wieder der Lehrer ins Spiel kommen, der auf Nachfrage Hilfestellung bei der Suche geben würde oder auch direkte Bildungsangebote zu bestimmten Themen machen würde.
Ein Gedankenexperiment, dass sich auf absurd anmutende Weise vom Alltag in deutschen Schulen unterscheidet. Aber es gibt bereits Schulen, deren reformpädagogisches Konzept ähnliche Aspekte beinhaltet, beispielsweise die Freie Schule Pankow in Berlin. Sie ist Mitglied des Bundesverbandes der freien Alternativschulen e.V. , wobei es sich um einen Zusammenschluss von fast 100 deutschen Schulen mit alternativen Bildungskonzepten handelt. Das bildungspolitische Selbstverständnis dieser Schulen beinhaltet die These, dass Lerninhalte aus den Erfahrungen der Kinder erarbeitet werden und dass flexiblere und vielfältigere Lernformen der Komplexität des Lernens gerecht werden. Im Zusammenhang mit dem durch Weinberger gezeichneten Bild des Wissens scheinen Schulen mit derartigem Konzept nahezu modern und der Entwicklung durch das Web 2.0 angemessen.
Die ernüchternde Realität ist allerdings, dass solche Schulen vorwiegend privat und aus Initiativen von Eltern entstanden sind. Gleichermaßen haben sie Schwierigkeiten, dass ihre Abschlüsse als gleichwertig anerkannt sind, da es auf diesem Weg nicht gewährleistet ist, dass alle Schüler annähernd denselben Wissensstand erlangen. Als Indikator für die Qualität einer Schule gilt aber nach wie vor die Messbarkeit der erbrachten Schülerleistungen im nationalen und internationalen Vergleich. Dies setzt voraus, dass es einen einheitlichen Stoffkanon geben muss, anhand dem der Bildungsstand erhoben werden kann. Somit sind die eben aufgeführten Gedanken wieder eng mit denen im zweiten Denkanstoß verknüpft, da eine Erneuerung der Lehrpläne hin zu noch mehr Kompetenzorientierung auch neue Standards für den Vergleich von Schülerleistungen mit sich bringen würde, wodurch mehr Platz für die individuelle Zusammensetzung von Lerninhalten wäre.
Der letzte Denkanstoß, oder: Befasst sich die deutsche Bildungspolitik mit den falschen Reformüberlegungen oder ist Weinberger allen einen Quantensprung voraus?
Aktuell drehen sich bildungspolitische Diskussionen hauptsächlich um Themen wie Gemeinschaftsschulen, Integration und Bildungsbenachteiligung, angeregt durch die neuen Ergebnisse der Iglu- und Timss-Studien, aber auch internationale Vergleichbarkeit und Vernetzung. Nach den aus “Too big to know” abgeleiteten Überlegungen ist nicht der Schluss zu ziehen, dass diese Themen, mit denen sich Bildungspolitik beschäftigt, zu Recht Dauerbrenner in den Diskussionen sind. Entscheidend ist, dass diesen Diskussionen immer noch der traditionelle Wissensbegriff zugrunde liegt, auch wenn dieser nach Weinberger längst überholt ist. Es ist also fraglich, ob diese Diskussionen möglicherweise nur an der Oberfläche der Probleme kratzen, indem sie den Wandel des Wissens durch das neue Medium des interaktiven Internet nicht in ihre Überlegungen miteinbeziehen.
Dass das Internet einen festen Platz im Bildungsplan haben muss, ist Bildungsministerin Schavan auch klar ( vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 2008). Das Web ist also längst Inhalt von Bildungsplänen - zu Recht, auch aus Weinbergers Perspektive. Mehr denn je ist die Vermittlung von Medienkompetenz und die theoretische und kritische Betrachtung von Medien wichtig, anders würden wir untergehen in einem Sumpf von Informationen und Meinungen, die von Usern der ganzen Welt im Netz verbreitet werden (vgl. Weinberger 2011, S. 192).
Aus didaktischer und methodischer Perspektive ist das auch für Lehrkräfte überaus bereichernd. Methoden, inspiriert von den Möglichkeiten neuer Medien, zum Beispiel die Methode des Webquests, oder neue Darstellungsmöglichkeiten von politischen Debatten über ihre kontroverse Präsenz im Internet stellen wertvolle Bereicherungen für die Bildungsarbeit dar. Aber es stellt sich die Frage, ob dieser Umgang mit dem Web 2.0 genügt, oder ob es nicht eigentlich in der Zukunft selbst eine Reform verkörpert. Wie David Weinberger mit dem Wissensbegriff umgeht, stellt einen übergeordneten Ansatz von Bildungspolitik dar, der auf extreme Art und Weise zum Umdenken anregt: “We are in a crisis of knowledge” (ebenda S. 173).
Wir haben in den oben formulierten Denkanstößen nun vielleicht vorübergehend in mehr oder weniger ungewohnten Gedankenspielen und Perspektiven gedacht, aber wirklich weitergekommen sind wir nicht, dafür sind Weinbergers Theorien möglicherweise noch zu weit entfernt von unserem Realitätsverständnis. Wie also umgehen damit? Sich überstürzt in den Strudel der Entwicklungen, die das Web 2.0 mitbringt, zu übergeben und es ein Selbstläufer sein lassen, kann nicht der richtige Weg sein, schließlich handelt es sich dabei um einen technischen Fortschritt und Wandel, der von Menschen erfunden, initiiert und angetrieben wurde und wird. An der traditionellen Vorstellung von Wissen und seiner Struktur festzuhalten, die Veränderungen durch das Web 2.0 zu ignorieren und es als rein technischen und funktionalen Bestandteil unseres Seins anzusehen aber auch nicht.
Vielmehr sollten wir und unsere Bildungsinstitutionen aktiv und bewusst das Wissensnetz des Web weiterspinnen und ausgestalten, mit ihm interagieren und unsere Denkweisen daran anpassen. Denn mehr denn je haben wir ein Mittel zur Verfügung, das uns einen Schritt näher zur Erkenntnis gelangen lässt - und das in einer länder- und schichtenübergreifenden Kooperation auf der Basis freiwilliger User. Das ist jedenfalls unbestreitbar positiv. Welche weiteren Entwicklungen das in Wechselwirkung mit gesellschaftlichem Wandel und weiterem Fortschritt mit sich bringen wird, bleibt abzuwarten.Ob Weinbergers Thesen von der Welt wahrgenommen werden oder ob von selbst ein Bewusstseinswandel herbeigeführt wird, und ob das eine radikale Umwälzung der Bildung und Forschung mit sich bringen wird, liegt noch im Dunkeln. Derartige Veränderungen vorherzusagen, wird wohl immer außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen, denn sie ist schlichtweg: too big to know.
(Autorin: Lea Weber)
Literatur
Pannen, Ute: Social-Media und politische Bildung. In: Neue Medien, alte Fragen? Das Internet in der Politik. Wochenschau Verlag, Schwalbach am Ts. 2012.
Schäfer, Miriam; Lojewski, Johanna: Internet und Bildungschancen. Die soziale Realität des virtuellen Raums. kopaed, München 2007.
Weinberger, David: Too big to know. Rethinking Knowledge Now That the Facts Aren’t the Facts, Experts are Everywhere, and the smartest Person in the Room Is the Room. Basic Books New York, 2011.
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