Dienstag, 13. August 2024

TikTok und Rechtspopulismus

Zielgruppe und Reichweite von TikTok

„Die Bundesregierung hasst dich. Sie will dir das wegnehmen, was du dir erarbeitet hast.“

Das erzählt der AfD-Politiker Maximilian Krah seiner Community auf TikTok, wo er knapp 37.000 Follower hat, seine Videos aber bis zu einer Million Aufrufe haben. Möglich macht das vor allem der Algorithmus und die For-You-Page (FYP) von TikTok. Die Plattform wird als „schärfste (…) Waffe (der AfD) im Kampf um die Meinungsführerschaft“ (Korth/Többen/Wald 2024) beschrieben.

„Same, but different!?“ Facebook, Instagram, Snapchat - und jetzt auch noch TikTok. Soziale Medien nehmen eine immer wichtigere Rolle im Leben vieler Menschen ein und haben daher auch einen starken Einfluss auf den Prozess der Meinungsbildung, was in einer Demokratie einerseits positive Aspekte hat, andererseits aber auch ein Gefährdungspotential.

Die Menge an Social Media-Kanälen ist groß und deshalb lohnt es sich, einmal zu hinterfragen, was die Plattform TikTok für viele besonders macht, wie sie funktioniert und weshalb sie gerade von Rechtspopulisten besonders gerne für ihre Zwecke genutzt wird.

Medien haben zum einen die Funktion des Informationsvermittlers, zum anderen spielen sie eine zentrale Rolle als „vierten Gewalt“, da sie der Politik kritisch auf die Finger schauen und diese damit unter eine Art Dauerinspektion stellen.

„Information ist die Währung der Demokratie“ - das wusste schon Thomas Jefferson, dritter Präsident der USA und Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, vor über 200 Jahren. Und noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es so viele Informationen wie heute; noch nie war es so leicht, an Informationen zu gelangen. Das Internet und somit auch TikTok schafft Informationszugang für (fast) jeden, jederzeit, an jedem Ort und zu jedem Thema. Kein Mensch kann stets jede einzelne Nachricht auf ihre Richtigkeit prüfen, um die Fakten sauber von den Lügen zu trennen. Das nützen manche aus, um uns unbemerkt zu manipulieren und z.B. ihre politischen Ideen mit unlauteren Mitteln durchzusetzen.

TikTok ist eine App, in der kurze, meist mit Musik unterlegte Filme zu sehen sind. Die Nutzer können sich Videos ansehen oder auch selbst kurze Videos auf der Plattform präsentieren. Dabei bietet TikTok zwei Möglichkeiten, die angezeigten Filme auszuwählen. Zum einen können die Nutzer Akteuren folgen und so von deren neuen Videos erfahren. Zum anderen wählt die App selbst Videos aus und bietet sie den Nutzenden in einem dauerhaften Strom auf ihrer „For You“-Page (FYP) an. Wer die App nutzt, bekommt Videos gezeigt und entscheidet selbst, oft in ein paar Sekunden, ob man das Video bis zum Ende sieht oder ob durch Wischen das nächste Video dran ist.

Bei Facebook, Instagram und Co. geht es darum, sich mit Freunden in Verbindung zu setzen und zu schauen, was andere veröffentlichen und dann selbst Inhalte zu posten. Bei TikTok ist es eher so, dass man sich von neuen Creators inspirieren lässt und dann selbst dazu animiert wird, Content zu erstellen. Nutzer erstellen so Inhalte, über die ein kontinuierlicher Austausch stattfindet: Zentrales Merkmal der TikTok-App ist demnach die Interaktivität (vgl. Kuhn 2022).

Die Nutzer können Videos liken, kommentieren und an andere weiterschicken oder die Inhalte selbst weiterverarbeiten und genau diese Aktionen informieren den Algorithmus über Vorlieben der Nutzenden. Auch nicht-öffentliche Direktnachrichten sind möglich. Man stellt sich die Frage: Soll in diesem Umfeld über Politik gesprochen werden?

Es handelt sich also grundsätzlich um eine stark musikorientierte Unterhaltungs-App, in der vornehmlich junge Leute sehr kurze Videos sehen. Mindestens 39% der 16- bis 24-Jährigen in Deutschland nutzen die App laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Mai 2023 (Roose 2023).

Zwei von fünf der jungen TikTok-Nutzenden informieren sich auf der Plattform über Politik, wobei politische Information eine nachgeordnete Rolle spielt und meist nach ihrem Unterhaltungswert beurteilt wird. Politische Inhalte müssen sehr kurz sein und schnell auffallen. Am ehesten finden laut der Studie politisch wenig Interessierte Politik auf TikTok ansprechend.

Die Idee hinter den technischen Funktionen stammt aus China. Das Unternehmen Byte Dance kaufte das (chinesische) soziale Netzwerk musical.ly auf und übernahm Funktionen und Ideen, z.B. mit Musik unterlegte Videos. Daraus entstand 2018 die App „TikTok“. Die Nutzerzahl steigt täglich weltweit, mittlerweile sind es fast zwei Milliarden Nutzer, davon 21 Millionen User in Deutschland, vor allem junge Menschen. Während andere soziale Netzwerke an Reichweite verloren haben, gewann TikTok an Reichweite hinzu.

Dabei war TikTok als Plattform zunächst nicht daran interessiert, als politische Plattform wahrgenommen zu werden oder sich zu einer solchen zu entwickeln. Es war eher ein Ort für Tanz-Challenges und sogenannte Lip-Sync-Videos. Doch die Möglichkeiten, die TikTok bietet, um politische Inhalte unterhaltend und spielerisch zu vermitteln, haben dazu geführt. Nutzer schauen sich auch Nachrichten an oder reagieren auf politische Ereignisse. Die Grenzen zwischen News und Entertainment auf TikTok verschwimmen dabei immer mehr.

Eine der wichtigsten Funktionen von TikTok ist das bereits erwähnte Alleinstellungsmerkmal: Die For You-Page (FYP). Die User bekommen hier ein Video nach dem anderen gezeigt, indem sie scrollen. Die Auswahl des nächsten Videos erfolgt dann automatisch durch den TikTok-Algorithmus. Das macht es den Creators möglich, mit ihren Videos viral zu gehen, obwohl sie oft im Verhältnis gar nicht so viele Follower haben. Jeder Nutzer erhält so ein Programm, das auf die eigenen Vorlieben zugeschnitten sein soll.

Zu den demografischen Daten der TikTok-Nutzung kann man sagen, dass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung die Nutzung der App bei den unter 20-Jährigen am stärksten ist. Die Plattform konnte in den vergangenen Jahren allerdings über alle Altersgruppen hinweg an Relevanz und Reichweite zulegen (Studie im Auftrag des SWR zu TikTok: Granow/Scolari 2022).

Rechtspopulismus und Rechtsextremismus

Bevor man nun gezielt auf die Thematik dieses Beitrags „TikTok und Rechtspopulismus" zu sprechen kommt, sollte man diesen Begriff zunächst einmal definieren: Rechtspopulismus ist eine Ausformung des Populismus im Bereich der politischen Rechten.

Populisten im allgemeinen nehmen einen allgemeinen Volkswillen an, der politisch nicht repräsentiert ist. Die Meinung der „schweigenden Mehrheit“ hat danach keine oder nur eine geringe Chance auf eine Präsenz im öffentlichen Raum. Dem Volk wird hierbei lediglich eine Rolle als machtloses politisches Objekt zugesprochen, dessen Bedürfnisse und Ziele nicht durch politisches Handeln der systemrelevanten Akteure wie Regierung oder Parteien umgesetzt werden.

Populismus geht von einem Gegensatz zwischen dem Volk und einer korrupten Elite bzw. einem korrupten politischen System überhaupt aus. Die Elite verfolge eine eigene, gegen die Interessen des Volkes gerichtete politische Praxis. Komplexe sozioökonomische Problemlagen werden dabei auf einfache Ursachen und entsprechende Lösungen reduziert. Populisten stellen sich also als einzig wahre Vertreter des allgemeinen Volkswillens dar, wobei es dabei oftmals Forderungen nach mehr direkter Demokratie gibt.

Populismus operiert außerdem mit Feindbildern und schlägt meist autoritäre Lösungen vor (Mediendienst Integration 2024). Er lebt von Polarisierung, die über TikTok gut funktioniert. Populismus ist sozusagen eine bestimmte Art der Anrufung der Gesellschaft und bezeichnet die Methode, wie sich Politiker, Bewegungen und Parteien zum „umworbenen Volk“ in Beziehung setzen (Decker 2000).

Der Linkspopulismus hat zum Ziel, möglichst viele Bevölkerungsteile an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion und an der politischen Partizipation teilnehmen zu lassen. Es geht dabei um die Einbeziehung (Inklusion) möglichst Vieler an der gesellschaftlichen Teilhabe.

Der Rechtspopulismus hingegen hat zum Ausgangspunkt, welche Teile der Bevölkerung eben nicht zum Volk gehören (Exklusion) und somit keinen Anspruch auf politische, soziale und ökonomische Repräsentanz haben. Ausgeschlossen werden diejenigen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Lebensweise als nicht zugehörig zur Nation betrachtet werden und eine Bedrohung darstellen (z.B. Migranten oder Homosexuelle). Die Bedrohung kann dabei beispielsweise in dem Verfall der inneren Sicherheit, der kulturellen Gefährdung, der ungerechten Steuerpolitik der Regierung oder der Globalisierung bestehen. Mit Hilfe des Ausschlusses wird so ein Gesamtwohl für das Volk konstruiert und konstituiert.

Außerdem ist der Rechtspopulismus eher als strategisches Konzept zu sehen und nicht als geschlossene Ideologie. Das bedeutet nicht, dass er keine ideologischen Elemente hätte, er präsentiert sich allerdings nicht als ideologisches Gesamtkonstrukt. Bei vielen politischen Inhalten bleibt der Rechtspopulismus eher diffus, wobei gerade in dieser Diffusität sein Erfolg begründet ist, denn so ermöglicht er eine große Projektionsfläche für viele unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung.

Rechtspopulisten treten betont bürgerlich auf. Sie vermeiden eindeutig (extrem rechts) konnotierte Begriffe wie „völkisch“ oder „Blutabstammung“, um so eine erhöhte Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen. So wird zum Beispiel Rassismus über die Kultur begründet: Statt dem deutschen Volk, das von Ausländern bedroht sei, würde die deutsche bzw. abendländische Kultur durch Einflüsse einer außenstehenden Kultur (also Migranten) zerstört.

Rechtspopulistische Agitation greift Stimmungen „aus dem Volk“ auf, lenkt sie und schmiedet sie zusammen, letztlich um eigene Ziele und Machtansprüche zu verwirklichen. Er ist dabei schwer zu greifen und anpassungsfähig; genau dies ist seine Stärke. Er wandelt geschickt seine jeweilige Gestalt und nimmt mal die eine, mal die andere Zielgruppe seiner Abwertung ins Visier (Küpper / Zick / Krause 2015).

Allerdings kann man auch sagen, dass der Rechtspopulismus als Schnittstelle zwischen extremer Rechte und Rechtskonservatismus fungiert. Er vertritt autoritäre Politikkonzeptionen, ohne jedoch eine völlige Abschaffung des demokratischen bzw. parlamentarischen Systems zu fordern. Direkte Bezüge zur extremen Rechten werden inhaltlich wie personell vermieden.

Die Abgrenzung des Rechtspopulismus von der extremen Rechten ist nicht immer trennscharf, schließlich haben beide viele Elemente gemeinsam (z.B. Xenophobie, völkisches Denken, Autoritarismus). Die extreme Rechte wird oft als radikalisierte, extremere Variante des Rechtspopulismus gesehen. Man könnte den Rechtspopulismus aber auch als „Wolf im Schafspelz“ ansehen.

Im Unterschied zum Rechtsextremismus hat der Rechtspopulismus nicht den Systemsturz, wohl aber eine Einschränkung politischer Partizipation zum Ziel. Gewalt ist beim Rechtspopulismus kein konstituierendes Merkmal. Im Rechtspopulismus besteht eher der Gedanke einer nationalen Erneuerung bzw. einer verstärkten Orientierung auf die Nation, während für die extreme Rechte eine vollständig neue völkische Gesellschaft geschaffen werden soll (Caballero 2016).

Außerdem bemüht sich der Rechtspopulismus um ein bürgerliches, seriöses Auftreten und tritt weniger militant auf. Zumindest in der Öffentlichkeit soll nicht der Eindruck einer intensiven Zusammenarbeit mit der extremen Rechten entstehen. Der Grad der Demokratiegefährdung ist allerdings bei beiden Phänomenen gegeben. Es ist von einer funktionalen Arbeitsteilung und Kooperation zwischen Beiden mit wechselseitiger Radikalisierung auszugehen.

Zu den wichtigsten Narrativen des Rechtspopulismus gehört die Inszenierung als Opfer und Außenseiter. Vom Gegensatz zwischen „Wir hier unten“ und „Die da oben“ ausgehend wird das Volk als Opfer begriffen. Dieses werde durch die Eliten betrogen und hätte im bestehenden Parteiensystem keine Chance, seinen Volkswillen auszuüben, wobei auch Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle spielen. Rechtspopulismus sieht Migration als Bedrohung von außen und versucht außerdem, die Angleichungen von Lebensverhältnissen zwischen den Geschlechtern rückgängig zu machen oder zumindest wieder einzuschränken. Die Familie wird als Keimzelle der Nation gesehen.

(Rechts)Populisten wissen Fake News (Falschmeldungen), Social Bots und Filterblasen für sich zu nutzen, um (politische) Meinungen zu manipulieren und ihre Reichweite zu vergrößern. Social Bots sind Softwareprogramme, die menschliche Verhaltensweisen simulieren, um Internetnutzer gezielt zu täuschen. Bei Filterblasen bekommt der User nur noch eine eingeschränkte bzw. homogene Auswahl an Meinungen und Nachrichten gezeigt, die zu seinen Interessen passt. Dadurch werden andere Meinungen und Ansichten bzw. die Fähigkeit zum kritischen und konstruktiven Diskurs zurückgedrängt oder gehen ganz verloren (vgl. Breyer / Holderried / Schmid / Mutschler 2019).

Posts, Tweets oder Wortmeldungen der Rechtspopulisten sollen gezielt Emotionen ansprechen bzw. hervorrufen und provozieren, die Nutzer wütend machen und quasi „wachrütteln“. Ein weiteres großes Problem ist auch, dass oft radikale Positionen mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gerechtfertigt werden. Auch als Lehrer muss man sich dann die Frage stellen, ob und wann das Recht auf freie Meinungsäußerung Grenzen hat.

Rechtspopulismus und TikTok

Weshalb Rechtspopulismus auf TikTok so erfolgreich ist, liegt untere anderem daran, dass der TikTok-Algorithmus polarisierende Inhalte belohnt. Mehr Kommentare bedeuten mehr Interaktion. Und mehr Interaktion bedeutet mehr Reichweite. Aber nicht nur der Algorithmus und die For You-Page sind entscheidend für den Erfolg, sondern natürlich auch der Aufwand, die Mühe und der Einsatz, den z.B. AfD-Politiker betreiben.

Grundsätzlich eröffnen neue Medien auch stets neue Möglichkeiten der politischen Manipulation. Nicht zufällig fiel der Aufstieg des Faschismus im frühen 20. Jahrhundert in eine mediale Zeitenwende; und nicht ohne Grund mussten die Demokratien Regeln für den Umgang mit Medien finden, die die Realitätswahrnehmung der potenziell manipulierbaren Massen prägen. Der klassische Faschismus gehörte jedenfalls zu den eifrigsten Nutzern neuer Technologien wie Massenpresse, Film und Radio. Und auch heute ist es unverkennbar, dass sich Rechtspopulisten digitale Medientechnologien wie die sozialen Medien, Messenger-Dienste und bildbasierte Foren gezielt zunutze macht, um ihre Mythen der nationalen Bedrohung zu verbreiten und sich gegenseitig in ihnen zu bestärken (vgl. Filitz / Marcks 2020).

Das Gefährdungspotential des Rechtspopulismus für die Demokratie beurteilt Frank Decker (Decker 2006) gemischt. In Form von Oppositionsparteien gehe mittelfristig keine Gefahr für die demokratischen Systeme aus. Er empfiehlt allerdings, die Bevölkerung über plebiszitäre Elemente stärker in die Politik einzubinden, um dem Rechtspopulismus so dabei zuvorzukommen, Volksabstimmungen im eigenen Interesse voranzutreiben.

Als Beispiel erfolgreicher Rechtspopulisten kann man den bereits am Anfang zitierten AfD-Politiker Maximilian Krah nennen, der im Wahlkampf für die Europawahl 2024 in seinen Videos der „grünen Politik“ die Schuld daran gab, dass Rentner Flaschen sammeln müssen. Er sagte, dass die Grünen „alles, wofür Deutschland steht, abschaffen“ und „unser Volk durch Masseneinwanderung ersetzen“ wollen. Oder in anderen Videos heißt es: „Echte Männer sind Patrioten, dann klappt’s auch mit der Freundin“ oder „ARD und ZDF sind linke Propaganda“ oder auch „Echte Männer sind rechts“. Für jedes Video erntet der 47-jährige Krah ca.1,4 Millionen Klicks. Auch wenn Internetuser ihm in ihren Kommentaren nicht alle Recht geben, spielen genau diese Krah in die Karten: Seine Videos werden so vom Algorithmus noch häufiger ausgespielt.

 

Rechtspopulistische Influencer produzieren am laufenden Band Inhalte, die auf ein größeres Publikum zugeschnitten sind, wobei sie - durch die wechselnde Inszenierung von realweltlichen und virtuellen Erlebnissen - ihr eigenes Leben für andere erlebbar machen. Der Follow-Button fungiert als Eintrittskarte in eine Erlebniswelt, die nicht mehr trennt zwischen politischer Agitation und emotionaler bzw. auch persönlicher Ansprache. Daher radikalisieren die Influencer nicht nur andere Menschen, sie werden häufig auch selbst weiter radikalisiert in ihrem Bemühen, jenen Durst zu befriedigen, der durch Algorithmen fortwährend angeregt wird. Entsprechend müssen im Kampf um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit immer aufsehenerregendere Inhalte produziert werden, um die Fans bei der Stange zu halten (Fielitz / Marcks 2020).

Auf TikTok hat die AfD deutlich mehr Reichweite als die restlichen Parteien. Dahinter steckt eine klare Strategie: Rechtspopulisten richten sich mit ihrer Propaganda in kurzen Clips verstärkt an Kinder und Jugendliche, die Gefahr der Indoktrinierung ist groß. Ein Netzwerk aus Influencern dient außerdem als Multiplikator und trägt AfD-Inhalte in verschiedene Subgruppen - beispielsweise die LGBTQ-Community - hinein, ohne direkt mit dem Parteilabel versehen zu sein.

Wer den TikTok-Erfolg der AfD auch mit für sich beansprucht, ist Erik Ahrens. Der rechte Aktivist aus dem Umfeld der „Identitären Bewegung“ hat für den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah eine Reihe von Videos erstellt und „betrieb“ nach eigenen Angaben dessen TikTok-Kanal. Ahrens sagte, dass die Videos von allein ihr Publikum fänden. Das sei so, wie man sich 1923 gefühlt haben müsse, als man das Radio für sich entdeckt habe. So fühle er sich heute, wenn er seine TikTok-Accounts anschaue. Ein bewusst gewählter historischer Vergleich? Für den Aufstieg des Nationalsozialismus war das Radio eine zentrale Technologie. „Unsere Botschaft, wie wir sie formulieren, nicht wie die Medien sie framen, nicht wie sie aus zweiter, dritter Hand gefactchecked, debunked ist“, beschrieb Ahrens einen Vorzug sozialer Medien.

Mit Blick auf die durchschnittliche Nutzungsdauer von TikTok unter 14-19-Jährigen in Deutschland sagte er: „Man hat 90 Minuten am Tag ein Fenster in deren Gehirn, wo man reinsenden kann“ (ZDF Nachrichten 2024). Ziel ist es, Propaganda zu verbreiten und Nachwuchs zu rekrutieren, junge Menschen, die noch keine feste moralische Haltung oder politische Meinung haben. Hier entsteht der Erstkontakt mit entsprechendem Gedankengut, Einstellungen und Haltungen.

TikTok-Videos des offiziellen Kanals der AfD-Bundestagsfraktion erreichten zwischen Januar 2022 und Dezember 2023 im Schnitt 430.000 Impressionen pro Video. Die FDP kam auf rund 53.000, die restlichen Parteien lagen noch weiter zurück. Die Zahl der Impressionen gibt an, wie häufig der Inhalt Nutzern angezeigt wurde.

„Andere Parteien überlassen der AfD nicht nur einzelne Plattformen wie TikTok, sondern auch die politischen Emotionen im Land. Es mangelt den anderen Parteien an einer effektiven Social-Media-Kommunikation auf Basis demokratischer Emotionen.“ (Statistiken in Metzger u.a. 2024).

Von den zehn erfolgreichsten Politikern auf TikTok kommen sechs von der AfD, hat der Politikberater Martin Fuchs in einer weiteren Studie erhoben. Der AfD-Landtagsabgeordnete Ulrich Siegesmund aus dem vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Landesverband Sachsen-Anhalt steht an der Spitze im deutschen Polit-TikTok, gemessen an der Anzahl seiner Follower: Mehr als 404.000 User folgen seinem Account (Stand Mai 2024, Statistik). Er hat sich zunächst nicht als Parteimitglied zu erkennen gegeben und so seine Fanbase erst einmal inkognito aufgebaut. Erst nach Recherchen des ZDF-Formats „Die Da Oben“ wurde öffentlich, dass hinter dem Account @mutzurwahrheit90 ein AfD-Politiker steckt.

Gefahren für junge Nutzer

Jugendliche oder sogar schon Kinder sind über Apps wie TikTok gut erreichbar und somit ein begehrtes Objekt der Beeinflussung, denn sie sind „permanently online, permanently connected“ und können so stets und überall mit rechtsextremistischen Inhalten in Berührung kommen, ohne danach speziell suchen zu müssen. Deshalb sind sie längst zu einer sehr wichtigen Zielgruppe rechtsextremistischer Propaganda geworden und es besteht eine hohe Gefahr der Radikalisierung, nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre politische und soziale Identität gerade erst ausbilden. Man erhält auf komplexe Fragen vermeintlich einfache Antworten und fühlt sich als junger Mensch dann dort zugehörig und verstanden.

Die einfachen Strukturen und Regeln können ein Gefühl von Überlegenheit und Macht vermitteln und so den eigenen Eintritt in die Szene erleichtern. TikTok ist hierfür besonders geeignet, weil die App relativ einfach zu verstehen ist, vor allem die Bearbeitungsmöglichkeiten.

Ein weiteres Problem stellen die Fake News dar in Meinungs- und Erklärvideos oder Erfahrungsberichten mit extremen politischen Ansichten, Verschwörungstheorien oder Hassbotschaften. Wecken diese Interesse bei den Jugendlichen, werden sie gelikt, geteilt oder kommentiert, worauf neue Videos in der Art gezeigt werden und so das Bild nochmals vertieft werden kann. Junge Nutzer werden oft auf subtile Art angesprochen und die Inhalte verharmlost, indem z.B. rechte TikTokerinnen sich schminken und eher beiläufig dabei ihre rechtsextremistische Weltanschauung erzählen.

Die größte Gefahr dabei ist, dass die Akteure oft nicht als rechtsextrem zu erkennen sind. Es handelt sich oft um rechte Influencer, die vermeintlichen Lifestyle-Content machen. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Tradwife-Bewegung, also Frauen, die über traditionelle Rollenbilder sprechen und ihre rechten Ideologien scheinbar nebenher einfließen lassen. Sie sprechen über häusliche Tätigkeiten wie Kochen oder Backen und lassen ihre völkischen und nationalistischen Ideen in ihren Content mit einfließen, der auf den ersten Blick harmlos wirkt. Die Jugendlichen hinterfragen das Ganze dann nicht weiter und halten das für normal, im schlimmsten Fall sympathisieren sie dann mit den Influencerinnen (Weichsel 2024).

Über die Hauptthemen Migrationsfeindlichkeit, Leugnung der Klimakrise, Verschwörungsideologie, Queerfeindlichkeit und Antifeminismus lassen sich auch noch weitere rechtspopulistischen Influencer nennen, wie z.B. Eingollan, Ketzerderneuzeit, Malischka, AfD-Chefkoch, Heimatliebe_de, Marie-Thérèse Kaiser oder Freya Rosi.

 

Mit Einrichtungs-Inspirationen, Kochrezepten, Beauty-Tipps oder Landschaftsfotos des deutschen Waldes nutzen sie TikTok, um ihr rechtes Weltbild, persönlich und emotional verpackt, beim Publikum zu verbreiten.

Die Gefahr, in ein sogenanntes „rabbit hole“ (dt. „Kaninchenbau“) zu geraten, also nur noch Inhalte zu bestimmten Themenbereichen angezeigt zu bekommen, ist extrem hoch. Immer skandalösere Videos rufen Reaktionen bei den Nutzern hervor und werden dadurch wiederum noch häufiger vom Algorithmus ausgespielt. Ein kritisches Abwägen von Informationen ist auf TikTok dann kaum möglich (Groß 2023).

Ein weiteres Thema ist der Jugendschutz: TikTok gibt für die Nutzung ein Mindestalter von 13 Jahren vor. Die Altersprüfung erfolgt einmalig beim Erstellen des Profils, dazu ist jedoch kein Altersnachweis nötig. Gewisse Funktionen (z.B. Sperren bestimmter Features) können von Kindern durch die Angabe eines falschen Geburtsdatums umgangen werden. Nicht zu unterschätzen ist auch das von Amnesty International konstatierte Suchtpotential der TikTok-App (Suki Law 2023: Amnesty-Berichte).

TikToks Umgang mit rechtspopulistischen Inhalten

Die Plattform hat zuletzt im April 2024 ihre neuen Community-Richtlinien veröffentlicht. Sie enthalten Regeln dazu, was auf TikTok erlaubt ist, und die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Um neu auftretende Risiken und potenzielle Schäden anzugehen, werden die Richtlinien fortlaufend aktualisiert. Die Menschenwürde und faires Handeln haben oberste Priorität.

Zur herausfordernden Moderation von Inhalten ist zu sagen, dass es TikTok wichtig ist, „die Plattform sicher, vertrauenswürdig und dynamisch zu halten.“ Deshalb müsse ein Gleichgewicht zwischen der Möglichkeit zur kreativen Entfaltung und der Prävention von Schaden gefunden werden. Dafür wird eine Kombination aus verschiedenen Möglichkeiten bzw. Maßnahmen genutzt:

  • Inhalte, die gegen die Regeln verstoßen, werden laut TikTok entfernt.
  • Inhalte, die nicht für Minderjährige geeignet sind, werden beschränkt.
  • Es wird für die Unzulässigkeit von Inhalten für den Für-dich-Feed gesorgt, wenn diese nicht den Empfehlungsvoraussetzungen von TikTok entsprechen.
  • Falls nötig, werden Warnhinweise oder andere Kennzeichnungen hinzugefügt.

Die Inhalte durchlaufen zunächst ein automatisiertes Prüfungsverfahren. Wenn sie als potenzielle Verstöße identifiziert werden, werden sie laut TikTok automatisch innerhalb von 24 Stunden entfernt oder zur weiteren Überprüfung durch die Moderatoren gekennzeichnet.

Mutmaßliche Verstöße können aber auch in der App und auf der Webseite gemeldet werden. Die Person, die den Beitrag gepostet hat, soll laut den Richtlinien über die Löschung des Beitrags informiert werden und erhält ggf. auch eine Sperre.

Häufig liegen die Videos allerdings an der Grenze zum juristisch Verfolgbaren, müssen also nicht gelöscht werden. Und selbst wenn ein Kanal gesperrt wird, dann kann derjenige sich einfach einen neuen Account erstellen. Die Person kann dann in kürzester Zeit dieselbe Reichweite erzeugen, weil sie in der Zielgruppe schon bekannt ist. Das ist ein großer Kritikpunkt an TikToks Handhabung problematischer Inhalte.

Gegenstrategien und Prävention

Bei der Medienkompetenzförderung junger Nutzer spielen sowohl die Eltern als auch die Schulen eine große Rolle und haben entsprechende Verantwortung. Wichtig bei der Einrichtung eines TikTok-Accounts ist, dass Eltern und Kinder gemeinsam entsprechende Privatsphäre-Einstellungen aktivieren und besprechen. Indem das Konto des Kindes auf „privat“ gestellt wird, können nur bestätigte Kontakte die Beiträge des Kindes sehen und mit diesem interagieren. Über die Funktion „Digital Wellbeing“ kann die Bildschirmzeit geregelt werden.

Mit den Jugendlichen sollte von Seiten der Eltern und der Bildungseinrichtungen über Inhalte gesprochen werden. Es ist wichtig, einen verantwortungsvollen Umgang zu vermitteln, anstatt nur Verbote auszusprechen. Eltern können in der Schule dafür eintreten, dass es mehr medienpädagogische Angebote zu Chancen und Risiken der digitalen Welt gibt.

Auch Angebote von etablierten Medien und Organisationen können helfen, jungen Menschen eine kritische Haltung beizubringen. Und diese ist nötig, denn soziale Netzwerke wie TikTok und Co. sind und bleiben fester Teil der Lebensrealität der meisten Kinder und Jugendlichen heute, weshalb der richtige Umgang mit ihnen so wichtig ist.

Aber auch die anderen (demokratischen) Parteien müssen handeln und alternative, aufklärende Inhalte auf der Plattform stärken. TikTok und andere Plattformen müssen zu einem wirksamen Vorgehen gegen rechte Inhalte verpflichtet werden.

Rechtliche und ethische Aspekte

Gerade in sozialen Netzwerken verhalten sich Menschen im Schutz der Anonymität häufig so, als sei das Internet ein rechtsfreier Raum. Der Staat muss grundsätzlich die freie Äußerung von Meinungen gestatten. Das ordnet schon der erste Absatz des Artikels 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention an. Aber schon der zweite Absatz dieses Artikels mahnt, dass „die Ausübung dieser Freiheiten mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ ist.

Die Freiheit, Meinungen zu äußern, kann daher Schranken unterworfen sein, die „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Deshalb können sich Lügner und Fake-News-Produzenten nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention erlaubt Staaten nicht nur, solche Äußerungen zu löschen; sie fordert Menschen sogar ausdrücklich auf, die Meinungsfreiheit verantwortungsvoll und pflichtbewusst auszuüben. Darum kann die Holocaustleugnung ebenso wenig auf den Schutz durch die Meinungsfreiheit hoffen wie die Unterstellung, dass der Nachbar ein Serienkiller sei. Unsere offene Gesellschaft soll sich vor jenen schützen können, die sie unterwandern (Horaczek / Wiese 2018, S. 57, 208).

Die begrenzte Erfahrung und das begrenzte Bewusstsein der Bevölkerung in Bezug auf Datenschutz verschärfen die ethischen Bedenken. Die Herausforderung besteht darin, die Meinungsfreiheit mit dem Schutz eines beeinflussbaren Publikums in Einklang zu bringen. Dabei tragen vor allem die Plattformbetreiber eine große Verantwortung. Ein weiteres Problem sind auch die unterschiedlichen Standards von Datenschutz in verschiedenen Ländern und der Flickenteppich aus Altersbeschränkungen und Kindersicherheitsgesetzen auf der ganzen Welt (Rau / Kero / Homann / Dinar / Heldt 2022).

Ausblick und Fazit

Die Welt des Internet und der sozialen Medien und damit die TikTok-Welt mit ihren vollkommen neuen Regeln, Strukturen und Dynamiken fordert unsere demokratische Gesellschaft nicht nur in vielerlei Hinsicht heraus, sondern drängt sie regelrecht in einen Konflikt mit den eigenen Normen. Mit erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten erweitern sich auch die Möglichkeiten intoleranter Kräfte, wie wir gesehen haben, und können eine Gefahr für Jugendliche und die Demokratie darstellen.

Wie können nun in diesem Spannungsfeld Maßnahmen aussehen, die Rechtspopulismus im Netz entgegenwirken, ohne selbst die Demokratie zu schwächen? Klar scheint, dass regulative Eingriffe nötig sind – auch wenn dies einer Gratwanderung gleicht, bei der Vorteile und Probleme der Maßnahmen genau abzuwägen sind, damit sie der Demokratie nicht am Ende mehr schaden als nutzen.

Literatur

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