In diesem Posting geht es zunächst darum, den Begriff „Politik 2.0“ näher zu bestimmen. Vor allem aber sollen Möglichkeiten und Chancen aufgezeigt werden, die Web 2.0-Tools für Politik und Politiker bieten.
Um das „2.0“ beim Begriff Politik 2.0 zu erklären, ist es wichtig, auf den Begriff Web 2.0 (sehr) kurz einzugehen: „Der Begriff Web 2.0 bezieht sich […] primär auf eine veränderte Nutzung und Wahrnehmung des Internets. Die Benutzer erstellen, bearbeiten und verteilen Inhalte in quantitativ und qualitativ entscheidendem Maße selbst, unterstützt von interaktiven Anwendungen [somit hat sich die Rolle des Nutzers verändert]. Die Inhalte werden nicht mehr nur zentralisiert von großen Medienunternehmen […] verbreitet, sondern auch von einer Vielzahl von Nutzern, die sich zusätzlich mit Hilfe sozialer Software untereinander vernetzen“ [http://de.wikipedia.org/wiki/Web_2.0#Bedeutung]. Eine ausführlichere Begriffsbestimmung findet sich im Rahmen des D@dalos Online-Lehrbuchs zum Web 2.0 im Abschnitt „Was ist das Web 2.0?".
Doch was ist es, was die Übertragung solcher veränderter Nutzung des Internets auf die Politik attraktiv erscheinen lässt? Als Einstieg in diese Frage soll der folgende Abschnitt dienen.
Politikverdrossenheit in Deutschland
In den letzten Jahren ist vermehrt eine politische Verdrossenheit der BürgerInnen zu beobachten. Iris Huth stellt Gründe für diese Verdrossenheit in ihrem Buch „Politische Verdrossenheit – Erscheinungen und Ursachen als Herausforderung für das politische System und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert“ anschaulich dar (Amazon, e-book). Sie führt in diesem Zusammenhang an, dass sich die Politik der (Sach-)Probleme der Bürger nicht angemessen annehme, diese zu spät oder gar nicht löse und der Bürgerin praktisch keine Möglichkeiten zugesprochen werde, mitzubestimmen – wodurch sie sich ohnmächtig und in den politischen Prozess lediglich bei Wahlzeiten involviert sehe (vgl. Huth, 2004, S.242f.).
Ebenso würden Skandale, wie Korruptionsaffären und Amtsmissbräuche, am Ansehen der Politiker kratzen, was folglich das Vertrauen in Politiker und somit auch in die Politik schwinden lasse (ebd., S.245). Nicht selten haben die Menschen den Eindruck, dass die gewählten Politiker ihre Macht missbrauchen, um eigene Interessen durchsetzen zu können. Gleichzeitig sind sie für die Bevölkerung nach einer Wahl nahezu „unerreichbar“, können ihre Entscheidungen nicht mehr beeinflussen und mitbestimmen.
Als Folge dieser Umstände kehrt der Bürger der Politik zunehmend den Rücken zu, hört auf, sich zu interessieren bzw. zu engagieren und wird „sprachlos“. Die Kommunikation zwischen Politikern und Bevölkerung, die für das demokratische Prinzip unerlässlich ist, gerät ins Stocken.
Besonders deutlich wird dieser Umstand bei der Betrachtung der Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren. Diese ist bei den Bundestagswahlen seit 1998 konstant zurückgegangen. Zuletzt verringerte sie sich um knapp 7% bei der Wahl 2009 im Vergleich zum Wahljahr 2002. Auch ein Rückgang der Parteimitglieder ist zu verzeichnen.
Einen genaueren Überblick über die Zahlen und Fakten verschafft der Blog-Eintrag von Katrin Bänisch mit dem Titel „Parteimitglieder in Deutschland: Wie viele es gibt und wie man selber Mitglied wird“, veröffentlich auf germanblogs.
Dies sind besorgniserregende Entwicklungen. Fehlende Transparenz und Partizipationsmöglichkeiten sind oftmals der Grund für die Politikverdrossenheit in Deutschland. Es bildet sich ein Graben zwischen den politischen Akteuren und dem Volk.
Doch bietet das Web 2.0 die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen, um die „Kommunikationsflaute“ zwischen Politik und Bevölkerung zu überwinden und den Weg für Politik 2.0 freizumachen?
Möglichkeiten von Politik 2.0
Durch das Web 2.0 können neue Wege der Kommunikation geschaffen werden, indem der Nutzer nicht nur die Rolle des Rezipienten einnimmt, sondern durch Web 2.0-Tools zum Produzenten werden kann. Diese neuen Möglichkeiten können von den Politikern insofern genutzt werden, als den Bürgern neue Chancen ermöglicht werden, mehr an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Demokratien leben von der politischen Beteiligung der Bürger. Mehr noch: Die (politische) Beteiligung bildet die Grundlage einer Demokratie. Politische Partizipation umfasst aber mehr als den Gang zur Wahlurne am Wahltag. Zwar steht den Menschen die Möglichkeit offen, sich aktiv in politischen Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften zu engagieren, es muss aber dennoch der Weg frei gemacht werden, ALLE Menschen an den politischen Entscheidungsprozessen in gleichem Maße teilhaben zu lassen.
Wann immer es darum geht, darzulegen, wie das Internet dazu verwendet werden kann, die BürgerInnen zur Teilnahme zu bewegen, gilt der Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008 als beeindruckendes Beispiel. Wie kein anderer Politiker vor ihm hat er die amerikanischen Staatsbürger mobilisiert und zur Teilnahme motiviert. Dabei nutzte er die Möglichkeiten des Web 2.0 wie kein anderer. Barack Obama verwendete dazu soziale Netzwerke wie Facebook (so auch das Profil für das kommende Wahljahr 2012), Video-Seiten wie Youtube bis hin zu Podcasts.
Ein paar Zahlen zeigen die Dimensionen der Online-Nutzung auf: Barack Obama hatte zu Wahlkampfzeiten 2008 über 3 Millionen Freunde in Facebook; 2000 Videos wurden von seinem Team im eigenen Youtube-Channel eingestellt, die über 80 Millionen Mal angeklickt wurden; der E-Mail-Verteiler von Obamas Wahlkampfteam umfasste 13 Millionen Adressen, an die über 1 Milliarde personalisierte E-Mails verschickt wurden, um die Menschen direkt anzusprechen. Es wurden so 8 Millionen Unterstützer mobilisiert und 80.000 lokale Wahlkampfevents und Millionen an Spenden aktiviert. Statt auf inszenierten Pressekonferenzen informierte Obama seine Wähler nun über Community-Plattformen wie Facebook, Twitter, Flickr, MySpace etc.
Vom Erfolg dieses Wahlkampfes getragen, initiierte Barack Obama und sein Team im Anschluss die Open Government Directive. Den Bürgern war nun durch den Einsatz des Web 2.0 der Weg geebnet, eigene Vorschläge, Ideen und Ansichten einzubringen, wie die Regierungsarbeit effizienter, transparenter und „partizipatorischer“ gemacht werden kann. Darauf wird im letzten Teil dieses Beitrages noch genauer eingegangen. Auf dem Internationalen UNESCO Bildungsserver für Demokratie-, Friedens- und Menschenrechterziehung finden Sie passend zu diesem Thema interessante Einträge zu Web 2.0 und Politik 2.0.
Eines steht fest: Barack Obama nutzte die Möglichkeiten der Web 2.0-Tools, um die BürgerInnen zu Stellungnahmen und zur Diskussion aufzufordern, wodurch der Politik Anstöße für die weitere politische Arbeit gegeben werden sollten. Nachdem Obama die Open Government Directive verabschiedete, konnten politische Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse für die amerikanischen Staatsbürger nachvollziehbarer und letztlich auch transparenter gemacht werden. Jedoch gilt als signifikantester Bestandteil, dass die BürgerInnen ihrer Meinungen auf Online-Plattformen kundtun konnten. Die Ansichten und Anregungen der Bürger waren gefragt.
Ein weiteres Beispiel für Politik 2.0 aus der Obama-Regierung: Die Gesundheitsreform war im Wahlkampf von Obama eines der zentralen Themen, denen er sich annehmen wollte. Bei deren Umsetzung wurden ebenfalls die Ziele Partizipation und Zusammenarbeit verfolgt. Durch modernste Web 2.0-Tools wurden die BürgerInnen der Vereinigten Staaten einerseits über die Fortschritte der Gesundheitsreform auf dem Laufenden gehalten und andererseits wurde ihnen ein „Raum“ geschaffen, die Fortschritte zu kommentieren. Somit wurde auch ein hohes Maß an Transparenz geschaffen, indem die US-Regierung wichtige Informationen bezüglich der Gesundheitsreform bereitstellte und somit nachvollziehbarer machte. Einen weiteren Meilenstein in Sachen Transparenz der US-Regierung finden Sie hier (Abschnitt Beispiel für Transparenz).
Mit Hilfe des Internets und speziell der Web 2.0-Tools kann den Menschen die Möglichkeit gegeben werden, ihre Anregungen, Meinungen und Ansichten zu äußern, beispielsweise durch die Nutzung von Blogs. Gleichzeitig können so diese Anregungen gesammelt und in den politischen Entscheidungsprozess einfließen. Partizipation heißt die Devise.
Nicht weniger wichtig ist die Tatsache, dass Politiker die Probleme und Ängste der Bürger direkt erfahren und berücksichtigen können. Aus einer „Einbahnstraßenkommunikation“ wird eine „Zweibahnstraße“. Die Partizipation an politischen Prozessen wird für die einzelne Bürgerin erleichtert. Die politische Teilhabe wird dadurch enorm erhöht, erforderlich ist lediglich ein Internetanschluss.
Durch die neuen Möglichkeiten des Web 2.0 können Menschen gleichzeitig interaktiv agieren. Kommentieren, zustimmen, ablehnen und konkretisieren ist durch die neue Technik um ein Vielfaches erleichtert worden. Politiker bekommen zudem die Chance, sich direkt bei der Bevölkerung zu „informieren“, wodurch neue Denkanstöße für die politische Arbeit an sie herangetragen werden können. Mit Hilfe eines gezielten Einsatzes der Web 2.0-Tools für die Politik können – und das ist für eine Demokratie sehr wertvoll – durch eine bessere Kommunikation der Beteiligten, den Politikern und dem Volk neue Möglichkeiten geschaffen werden, Probleme dezentraler zu lösen, nämlich durch die aktive Beteiligung und Mitarbeit der Menschen innerhalb eines Staates.
Die Voraussetzung dieser neuen Form des „Politikmachens“, nämlich die technischen Voraussetzungen, sind vorhanden. Nun kommt es auf den Willen der Politiker an, das Web 2.0 zu nutzen, um die Menschen in ihre politische Arbeit mit einzubeziehen, aktiv mitwirken und mitbestimmen zu lassen.
Politik 2.0 in Stuttgart
Auch die Stadt Stuttgart, Landeshauptstadt von Baden-Württemberg, entschied sich dazu, die Einwohner aktiv am Prozess der politischen Entscheidungsfindung teilhaben zu lassen. Zu diesem Zweck wurde die Initiative Bürgerhaushalt gestartet.
Worum geht es hierbei?
Es lassen sich durchaus Parallelen zu der Open Government Directive von Barack Obama finden. Es begann – wie auch in den USA, durch den „Open Government Dialogue“ – mit einer Online-Brainstorming-Phase. Diese reichte vom 01.07.2011 bis zum 22.07.2011. Dazu wurde eine Website eingerichtet, auf der die Bürger der Stadt Stuttgart Ideen, Hinweise und Vorschläge zu den Einnahmen und Ausgaben der Stadt abgeben konnten. Den Menschen wurde die Möglichkeit geboten, eigene Vorschläge zur Einnahmen- und Ausgabenverwendung einzubringen (Beispiel aus dem Bereich Energie).
Ein Video zur Aufklärung, wie die Stadt Stuttgart ihren Haushaltsplan aufstellt, wurde ebenfalls auf dieser Website veröffentlicht. Zudem wurde das Video von der Stadt Stuttgart auch auf Youtube eingestellt. Sicherlich sollte damit auf den „Bürgerhaushalt“ auch in anderer Form aufmerksam gemacht werden als „nur“ über Flyer und Prospekte.
In den USA startete als zweite Etappe der „Office of Science and Technology Policy Blog“. Das Ziel war, die bestehenden Vorschläge zu präzisieren. Dazu konnten Kommentare sowie Bewertungen der vorhandenen Vorschläge aus der Bevölkerung abgegeben werden.
Beim Bürgerhaushalt in Stuttgart kamen dabei, wie auch in den USA, Web 2.0-Tools zum Einsatz, um es den Teilnehmern zu erleichtern, eigene Kommentare und Bewertungen abzugeben. Ein Beispiel finden Sie hier. Bewertungen konnten noch weitere 7 Tage abgegeben werden, bis zum 29.07.2011. Die positiven bzw. negativen Bewertungen sind ausschlaggebend: Es wird eine Top-100 mit den besten Bewertungen erstellt. Die am besten bewerteten Vorschläge werden auf ihre Durchführbarkeit und daraufhin überprüft, ob die Stadt Stuttgart überhaupt dafür zuständig ist. Letztlich entscheidet dann der Gemeinderat, welche der Vorschläge umgesetzt werden. Die Bürgerin wird schließlich online darüber informiert werden, welche Vorschläge zu den Top-100 gehören, wie die Verwaltung die einzelnen Vorschläge fachlich bewertet und wie sich der Gemeinderat bezüglich der Umsetzung entschieden hat.
Mit den neuen Web 2.0-Tools kann es für die BürgerInnen vereinfacht werden, ihre Partizipationsmöglichkeiten zu nutzen. Jeder (Bürger Stuttgarts) kann seine Vorschläge, seine Anliegen, seine Ansichten in den politischen Entscheidungsprozess einbringen. Ein veränderter Kommunikationsprozess entsteht, in dem die Bürger nicht nur zu Wahlzeiten eine Stimme haben. Dieser Stimme kann nun online Gehör verschafft werden. Es liegt nun an der zuständigen Verwaltung, diese Vorschläge ernst zu nehmen und in den politischen Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen.
Natürlich lassen sich die Größenverhältnisse der „Partizipationskampagnen“ der USA und der Stadt Stuttgart nicht vergleichen. Dennoch ist erkannt worden, dass der Drang der Menschen nach mehr Mitspracherecht von der Politik nicht abgetan werden kann. Durch die Möglichkeiten des Web 2.0 kann diesem Drang Rechnung getragen werden.
Die Möglichkeiten des Web 2.0 können der Politikverdrossenheit entgegenwirken: Soziale Software bietet der Politik die Chance, ein neues Kommunikationswerkzeug zu nutzen, um mit den BürgerInnen in einen direkten Dialog zu treten. Den Menschen kann somit vermittelt werden, dass ihre Probleme ernst genommen und ihre Lösungsvorschläge in den politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden. Die Partizipationsmöglichkeiten ebnen nun gleichzeitig den Weg, die politische Willensbildung in einer Demokratie grundlegend zu ändern.
Michael Seckinger
Literatur
Huth, Iris: Politische Verdrossenheit. Erscheinungsformen und Ursachen als Herausforderung für das politische System und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert. Lit Verlag: Münster, 2004.
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