Mittwoch, 1. Februar 2012

Wikipedia Teil I: Wie ist Wikipedia entstanden?

Im Rahmen eines Projekts beschäftigen wir uns seit einigen Wochen intensiver mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Noch immer lehnen viele Lehrende an Schulen und Hochschulen Wikipedia ab - ein Umstand, der wohl nur mit mangelndem Verständnis hinsichtlich der Enzyklopädie (sowie des Web 2.0 im allgemeinen) erklärt werden kann. Wir haben uns deshalb entschlossen, in einer Reihe von Postings Wikipedia und dessen Nutzung zu erläutern. Alle Postings zusammen werden dann als neues Unterkapitel im Abschnitt Lernen 2.0 des Online-Lehrbuchs zum Web 2.0 veröffentlicht.

Wie ist Wikipedia entstanden?

(Autorin: Sarah Brenner)

“Ein Urtraum der Aufklärung scheint wahr zu werden. Dass ein Publikum sich selbst aufkläre, schrieb einst Immanuel Kant, sei unausbleiblich, wenn man ihm nur die Freiheit ließe, von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen. Die neue bunte Bildungsbürgerbewegung, die mit Bühnen wie Wikipedia entstanden ist, fühlt sich dieser Tradition durchaus verpflichtet. Freiheit, Nützlichkeit, Vereinsarbeit: E-mancipation als Aufklärung Version 2.0. Ein Massenphänomen ist so entstanden, dessen Auswirkungen bislang nur zu erahnen sind.”
[Frank Hornig: “Du bist das Netz!; in: Spiegel 29/2006, S. 62f.]

Was ist ein Wiki?

Um Wikipedia zu verstehen, muss man zunächst wissen, was ein Wiki ist, denn dabei handelt es sich um die Software, die dem Projekt Wikipedia zugrundeliegt. Der Softwareingenieur Ward Cunningham entwickelte bereits 1995 das erste Wiki. Er suchte nach einer Websoftware, die eine Plattform für “shared design wisdom” bietet - ein Autorenwerkzeug, das Publizieren ohne technische Sonderrechte oder besondere Kenntnisse erlaubt und möglichst einfach zu bedienen ist, so dass jede/r - und nicht nur Webmaster mit Programmierkenntnissen - im Web veröffentlichen kann (vgl. Richardson 2011, 95).

Bereits die Namensgebung spiegelt die Charakteristik der Websoftware wider; “wiki” leitet sich aus dem hawaiianischen Wort “wiki wiki” ab und bedeutet “schnell”. Schnell und unkompliziert sollte auch die Arbeit mit einem Wiki sein. Die bestehenden Instrumente waren verbunden mit komplexen Anforderungen und klaren Rollenverständnissen: “Writer” und “Editors” arbeiteten strikt voneinander getrennt (vgl. Shirky 2008, 111f.).

Die Wiki-Software Cunnighams löst diese Rollentrennung auf, da sie es Nutzern ermöglicht, Webseiten zu verändern und diese Änderungen zu speichern: “Every wiki page is thus the sum total of accumulated changes” (ebd., 112). Dabei protokolliert die Software nicht nur die Neuerungen, sondern auch vorherige Versionen der Seite. Revolutionär ist bei diesem Konzept der Verzicht auf Kontrolle und formale Ordnung, und das war zweifellos ein Wagnis. Doch Cunningham setzte bei seinem Konzept auf die Zusammenarbeit der Nutzer: “People who want to collaborate also tend to trust one another [...] without formal management or process” (ebd., 111).

Zum berühmtesten Beispiel eines Wikis wurde die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Richardson (2011, 97) bezeichnet sie als das “Ziehkind einer kollektiven Konstruktion von Wissen und Wahrheit”. Aber die Wiki-Software bietet noch viele weitere Nutzungsmöglichkeiten. Ein Wiki kann beispielsweise auf den halb-öffentlichen Raum eines Unternehmens beschränkt (interne Kommunikation der Mitarbeiter) oder für die private Organisation der Dateien des eigenen Computers verwendet werden (vgl. Van Dijk 2010, 16).

Heute gibt es unzählige Wiki-Anwendungen, und man kann Cunninghams Erfindung ohne Zweifel als Erfolgsgeschichte bezeichnen, denn “Wikis haben ein enormes Potenzial freigesetzt: einen sich selbst erfüllenden positiven Kreislauf der kooperativen Schöpfung, den hierarchische Modelle weder nachahmen noch unterbrechen können” (Tapscott; Williams 2009, 76). Damit haben wir den ersten Teil des Namens “Wikipedia” geklärt und kommen im nächsten Abschnitt zur zweiten Namenshälfte, die sich aus dem englischen Begriff “encyclopedia” ableitet.

Was ist eine Enzyklopädie und welche Funktionen erfüllt sie?

Geht man dieser Frage nach, wird die Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt gelenkt, der nachvollziehbar macht, warum die Online-Enzyklopädie so erfolgreich ist: Weil sie auf einem uns allen bekannten, klar definierten Konzept beruht, dem Konzept der Enzyklopädie.

Der Begriff “Enzyklopädie” stammt aus dem Griechischen und bedeutet “umfassende” oder “allgemeine Bildung” (Enzyklopädie 2011). Die Enzyklopädie ist als ein “geschlossenes, schriftbasiertes Werk zu verstehen, welches uns das gegenwärtig relevante Weltwissen entlang Stichworten erschließt” und dies klassischerweise in Buchform (Pscheida 2010, 100). Jedoch umfasst sie nicht das gesamte Wissen, sondern einen Kurzüberblick, eine kategorisierte, systematisierte Zusammenfassung. Bekannte Vertreter sind u.a. Meyers Lexikon, der Brockhaus und vor allem die Encyclopedia Britannica (Münker 2009, 98).

Ziel der Intellektuellen war es Ende des 18. Jahrhunderts, “das Wissen der Menschheit [...] zu sammeln, zu organisieren, mit Querverweisen zu versehen und vor allem: [dieses] der Welt der Leser zur Verfügung zu stellen. Das Projekt ist so erfolgreich, dass es über Jahrhunderte maßgeblich unser Verständnis des Begriffs `Wissen`prägt” (ebd.). Es gelang, sich von der bloßen Meinung (doxa) abzugrenzen und “wahres Wissen” (episteme) zu repräsentieren (vgl. ebd.).

Der Erfolg lässt sich an der Tatsache messen, dass es zur Selbstverständlichkeit wurde, wenn Informationen über ein Thema, Wort oder Ereignis eingeholt werden müssen, ein solches Nachschlagewerk zu Rate gezogen wird. Diese Auskünfte gelten als Fakten, als Wissen, weil “der dahinterliegende Prozess der Absicherung durch eine eher kleine Gruppe von Experten für alle verbindlich die Demarkationslinie zwischen objektiv begründetem Wissen und bloß subjektiver Meinung definiert hat” (ebd., 98f.). Doch gerade dieses Expertentum, das bisher unweigerlich mit dem Konzept der Enzyklopädie verbunden war, stellt Wikipedia auf den Kopf - erfolgreich.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff, der Geschichte und mit inhaltlichen Aspekten bietet Wikipedia selbst: http://de.wikipedia.org/wiki/Enzyklop%C3%A4die.

Der Traum, eine Online-Enzyklopädie zu erstellen: Nupedia wird ins Leben gerufen

“Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das gesamte Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich ist. Das ist unser Ziel!”
[Jimmy Wales]
1998 versuchten Jimmy Wales und Larry Sanger diesen Wunschtraum, den bereits die Intellektuellen des 18. Jahrhundert vor Augen hatten, in einem neuen Konzept in die Wirklichkeit umzusetzen. Dazu riefen sie “Nupedia - the free encyclopedia” ins Leben. Ihr Ziel war dasselbe wie später bei Wikipedia: kostenlose Inhalte, die jedem uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollen und die sich schließlich zur “Summe allen menschlichen Wissens” zusammenfügen.

Das Projekt Nupedia sollte nach dem “Peer-Review-Verfahren” funktionieren, bei dem sich ein Autor zunächst mit entsprechenden Qualifikationen (Universitätszeugnissen) bewerben musste. Gleichzeitig empfahl sich der Experte für einen bestimmten Artikel. Bevor ein geschriebener Artikel tatsächlich publiziert wurde, musste er einige Kontrollinstanzen durchlaufen (vgl. Van Dijk 2010, 17).

Dieses siebenstufige Kontrollsystem durch bezahlte Experten garantierte zwar ein hohes Maß an Qualität, bedeutete aber gleichzeitig auch langatmige Hürden für die Artikel und damit ein enorm langsames Wachstum für die Enzyklopädie (vgl. Tapscott 2009, 71). Gleichzeitig überstiegen die Kosten schnell die Effizienz des Projektes: bis zur Einstellung des Projekts wurden gerade einmal 24 Artikel veröffentlicht, 74 befanden sich in Bearbeitung (vgl. Nupedia 2011).

Clay Shirky kommentiert: “[...] to set a minimum standard of quality, had also set a maximum rate of process: slow” (Shirky 2008, 110). David Weinberger (2007, 166) hält fest, dass “das Fachwissen das Projekt [letztendlich] aufhielt”, anstatt auf Basis von Expertentum Zuspruch zu finden und zu wachsen.

Nupedia folgte mit diesem Vorgehen einer zentralistischen und hierarchischen Struktur einer Homepage, deren Inhalte dem Nutzer zwar frei zugänglich sind, aber nicht von ihm oder ihr mitgestaltet werden konnten (vgl. Tapscott 2009, 71). Gleichzeitig wurde das altbewährte Konzept der Enzyklopädie in die Onlinesphäre transferiert - doch wie sich zeigte, zunächst ohne großen Erfolg.

Die Software “Wiki” sollte diesem Stillstand entgegenwirken. Die Idee von Jimmy Wales war hierbei 2001, dass jedem Nutzer die Möglichkeit eingeräumt wird, einen groben Entwurf eines Artikels zu verfassen. Was zunächst nur als Vorstufe zu Nupedia gedacht war, entwickelte schnell eine immense Eigendynamik. Zum einen war es nun jedem Interessierten möglich, Artikel zu erstellen; zum anderen wuchs das Projekt Wikipedia so rasant, dass das Wiki eine eigene URL benötigte - Wikipedia wurde geboren (vgl. Shirky 2008, 111f.).

Nupedia geht offline - Wikipedia wird geborenWas ist das Neue an Wikipedia? Das bekannte Konzept der Enzyklopädie wurde mit neuen Idealen angereichert und auf den Kopf gestellt. Nicht mehr die Expertise bestimmt über die Inhalte, sondern von nun an sollte das Kollektiv teilen, schreiben, publizieren und editieren. Doch diese offene Struktur, die das Projekt ins Rollen brachte, widersprach Larry Sangers Vorstellungen einer Enzyklopädie, so dass er Wikipedia verließ, während sich Jimmy Wales dem Wiki immer begeisterter widmete (vgl. Pscheida 2010, 348).

Wiki-Software und Open-Source-Idee verliehen der Bezeichnung “freie Enzyklopädie” eine neue Bedeutung und beschleunigten den Wachstumsprozess in einem ungeahnten Maß: Bereits im ersten Monat gingen 200 Artikel online, im ersten Jahr waren es 18.000 Artikel (vgl. Tapscott 2009, 71). Doch bedeutet Quantität auch Qualität? Zu betonen ist, dass Wikipedia keine reine “Bottom-up-Enzyklopädie” sein will. Ziel ist nicht, wie Jimmy Wales betont, “ein Experiment in sozialer Gleichberechtigung”, sondern eine “Enzyklopädie von Weltklasse” (Weinberger 2007, 166).

Beide Projekte koexistierten noch eine gewisse Zeit, obwohl Wikpedia die Nupedia längst übertroffen hatte. Die Erfolgsgeschichte der Wikipedia setzte sich fort, während die Mutter der Wikipedia letztendlich scheiterte und im September 2003 offline ging (vgl. Pscheida 2010, 348).

Fortsetzung: Wikipedia Teil II: Grundsätze von Wikipedia

Literatur:

Clay Shirky (2008), Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations, Penguin, S. 109-142: “Personal Motivation Meets Collaborative Production”.

David Weinberger (2008), Das Ende der Schublade. Die Macht der neuen digitalen Unordnung, Hanser, S. 160-176: „Anonyme Verfasser“.

Stefan Münker (2009), Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Suhrkamp, S. 95-102: „Kollektives Wissen und der Erfolg von Wikipedia“.

Don Tapscott/Anthony D. Williams (2007), Wikinomics. Die Revolution im Netz, Hanser, S. 71-76: „Die Enzyklopädie, an der jeder mitschreiben kann“.

Will Richardson (2011), Wikis, Blogs und Podcasts. Neue und nützliche Werzeuge für den Unterricht, Tibia Press, S. 95-116: „Wikis. Gemeinschaftsarbeit leicht gemacht“.

Anja Ebersbach/Markus Glaser/Richard Heigl (20112), Social Web, UVK, S. 39-60: „Wikis“.

Daniela Pscheida (2010), Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert, Transcript Verlag.

Ziko Van Dijk (2010), Wikipedia. Wie Sie zur freien Enzyklopädie beitragen, Open Source Press.

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