Sonntag, 23. Mai 2021

Wikipedia und Open Source-Produktion

In diesem Beitrag stellt Hannah Kraus folgenden Aufsatz vor:

Anthony, Denise; Smith, Sean W.; Williamson, Timothy (2009): Reputation and reliability in collective goods. The case of the online ecyclopedia Wikipedia; in: Rationality and Society 21, 3/2009, S. 283-306, online unter: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1043463109336804

Als eine der wichtigsten organisatorischen Innovationen im Zusammenhang mit dem Internet nennen die Autor:innen die Entstehung der „Open-Source-Produktion“ (auch „Open Content“ genannt). Definiert wird dieser Terminus u.a. mit den Schlagworten freie und offene Erstellung, Änderung und Verteilung von „goods“ - typischerweise Software - von Beiträgen und Inhalten einer großen Anzahl von geografisch verteilten unkoordinierten Akteuren (S. 284).

„Open-Source-Produktion“ ist nicht in Form eines privaten „Marktguts“ organisiert, was durch Verträge oder Hierarchie hergestellt wird, sondern als ein gemeinsames Pool-Ressourcensystem („common pool ressource system“) (S. 284). In diesem Kontext thematisieren die Autor:innen in ihrem Aufsatz den Fall von Wikipedia als Online-Enzyklopädie mit offenen Inhalten. Wikipedia ist laut den Autor:innen ein Beispiel für „Open-Source-Produktion“ (S. 285).

Seiner Startseite folgend, ist Wikipedia „the free-content encyclopedia that anyone can edit“. Wikipedia beschreibt sich, so die Autor:innen, zusätzlich als ein mehrsprachiges, webbasiertes, kostenloses Enzyklopädie-Projekt, das kollaborativ von Freiwilligen verfasst wird. Die Artikel können dabei von jedem bearbeitet werden, der Zugang zum Internet hat (S. 285). Nicht nur alle Inhalte in Wikipedia sind „open access“, sondern auch deren Über- bzw. Bearbeitung und Änderung, sodass prinzipiell jeder einen Eintrag hinzufügen und bearbeiten kann. Die Autor:innen merken hier aber an, dass Wikipedia bestimmte Schutz-Richtlinien erstellt habe, die die Bearbeitung bestimmter Seiten einschränken, sodass lediglich registrierte Benutzer:innen „halbgeschützte“ Seiten bearbeiten können (S. 302).

In diesem Kontext ist die Qualität der Inhalte auf Wikipedia ein vielfach diskutiertes Thema. Die Autor:innen führen in diesem Zusammenhang an, selbst überrascht zu sein, dass sich Wikipedia in den wenigen systematischen Studien, in denen die Qualität von Wikipedia-Inhalten und professionellen Enzyklopädien miteinander verglichen wurden, als qualitativ vergleichbar erweisen konnte (S. 285).

Die Bedenken und die Kritik hinsichtlich der Qualität von Wikipedia bestehen jedoch fort (S. 285). Die Bedenken im Bezug auf die Qualität von Wikipedia konzentrieren sich insbesondere auf die Fähigkeiten, Kompetenzen und Expertise der Mitwirkenden und Herausgeber:innen der Inhalte und Artikel, da bei Wikipedia keine Angaben von Anmeldeinformationen erforderlich sind (S. 285).

Als weiteren Punkt, unter dem die Qualität von Wikipedia leiden könne, sei das Fehlen individueller Anreize, bei Wikipedia „mitzuwirken“, woraus die Autoren schlussfolgern, dass sich einerseits generell wenige Menschen beteiligen und dass es andererseits höchst unwahrscheinlich sei, dass überhaupt „echte Expert:innen“ einen Beitrag leisten. Desweiteren wird davon ausgegangen, dass die niedrigen Eintrittsbarrieren Beiträge von geringer Qualität fördern würden (S. 286).

Darüber hinaus thematisieren die Autor:innen die Motivaton der Mitwirkenden in Wikipedia. Zum einen nennen sie hier erneut die niedrigen Eintrittsbarrieren aufgrund der „Wiki-Technologie“ von Wikipedia. Ein Wiki ist eine Website (bestehend aus einer Sammlung von Seiten), die es jedem, der darauf zugreift, ermöglicht, Inhalte beizutragen oder zu ändern. Wikipedia sei dabei eine Sammlung von Wiki-Seiten zu bestimmten Themen (S. 286).

Als eine weitere Motivation bzw. ein Motiv der Mitwirkenden nennen die Autor:innen den Aufbau eines guten Rufs in der Community. Wikipedia würde in diesem Zusammenhang Mitwirkende ermutigen, zu registrierten Nutzer:innen zu werden, indem sie die Vorteile eines Benutzerkontos betonen, einschließlich den Aufbau einer guten Reputation innerhalb der Community.

Die registrierten Benutzernamen sind oftmals Pseudonyme, welche nicht unbedingt an die wahre Identität der dahintersteckenden Person gebunden sind. Jedoch bieten diese einen gewissen Mechanismus zur Ermittlung und Verfolgung der Reputationen, auf die einige Benutzer:innen durchaus viel Wert legen (S. 287). Mitwirkende können jedoch auch einfach anonym bleiben (S. 288).

Akteure, die eine starke bzw. herausragende Gruppenidentität empfinden, würden jedoch eher zu kollektiven „Gütern“ (collective goods) beitragen (S. 288). Aktiv Mitwirkende an „Open-Source-Projekten“ wie Wikipedia verkörpern bzw. empfinden eine starke Identifikation mit der Gruppe, ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl, auch wenn diese „Gruppe“ bzw. Gemeinschaft nur im virtuellen Raum existiert (S. 288). Förderlich sei hierbei, dass sich Wikipedia auch als klare Gemeinschaft nach außen präsentiere (S. 288).

Die Autor:innen formulieren in ihrer Publikation einige Hypothesen hinsichtlich der Frage, wie die genannten Motive bzw. Motivationen die Teilnahme an Wikipedia und die Qualität der Beiträge und Inhalte beeinflussen: Registrierte Nutzer:innen leisten mehr Beiträge als nicht registrierte Nutzer:innen. Die Autoren gehen davon aus, dass sich registrierte Nutzer:innen in der Regel eine gute Reputation aufbauen wollen und deshalb auch daran interessiert sind, wertvolle und qualitativ gute Beiträge zu leisten.

Dies führt die Autor:innen zur zweiten Hypothese: Registrierte Nutzer:innen mit vielen Beiträgen haben eine höhere Zuverlässigkeit als registrierte Nutzer:innen mit weniger Beiträgen und nicht registrierte (anonyme) Nutzer:innen. Dahingehend würde jedoch bei vielen Beiträgen das Risiko steigen, „bearbeitet“ zu werden, weshalb es laut der Autor:innen dann vorkommen könne, dass die Zuverlässigkeit engagierter Mitwirkender, die sehr viele Beiträge leisten, abnimmt (S. 289), was die Autor:innen zu ihrer nächsten Hypothese führt:

Ab einem bestimmten Beitragsschwellenwert sinkt die Zuverlässigkeit registrierter Nutzer:innen. Es gibt (mindestens) zwei Arten von anonymen Mitwirkenden in Wikipedia: Bei der ersten Art handelt es sich um diejenigen, die z.B. einen grammatikalischen Fehler entdecken und einen Beitrag zur Behebung dieses Fehlers leisten. Dies führt die Autor:innen zu ihrer nächsten Hyptothese:

Anonyme Nutzer:innen tragen weniger Inhalte pro Bearbeitung bei als registrierte Nutzer:innen. Der zweite Typ der anonymen Mitwirkenden in Wikipedia setzt sich aus denjenigen zusammen, die Expert:innen auf einem bestimmten Gebiet sind und im Rahmen ihres Fachgebietes einen Beitrag zu einem Artikel leisten. Diese Expert:innen seien nicht an dem Aufbau eines guten Rufs in der Wikipedia-Community oder an einem „Platz“ in der Wikipedia-Gemeinschaft interessiert, weshalb es eher unwahrscheinlich ist, dass sich diese registrieren und darüber hinaus auch noch viele Beiträge leisten (S. 290).

Desweiteren tragen laut den Autor:innen die meisten anonymen Nutzer:innen nur einmal etwas zu Wikipedia bei. Im Bezug auf die Zuverlässigkeit der anonymen Nutzer:innen sind die Autor:innen der Meinung, dass es für diese keine Gründe gebe, regelmäßig etwas anonym zu Wikipedia und zur Community beizutragen, weshalb die Autor:innen hinter solch einem Verhalten eher negative Absichten vermuten (S. 291).

Eine weitere These besagt, dass anonyme einmalige Mitwirkende eine höhere Zuverlässigkeit als anonyme Mitwirkende mit mehr als einem Beitrag haben. Daran anschließend knüpft sich die weitere Hypothese der Autor:innen: Die Zuverlässigkeit nimmt mit der Anzahl der Beiträge für anonyme Nutzer:innen ab (S. 291).

Die Autor:innen werten in ihrer Publikation hinsichtlich der formulierten Hypothesen verschiedene Untersuchungen aus (S. 292-295) und stellen abschließend ihre Ergebnisse dar. Diese zeigen u.a., dass registrierte und anonyme Nutzer:innen nicht zwangsläufig zu unterschiedlichen Arten von Inhalten bzw. Artikeln beitragen, jedoch dass sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise beitragen (S. 295f.). 

Insgesamt tragen registrierte Nutzer:innen tatsächlich wesentlich häufiger bei als anonyme Nutzer:innen und nehmen auch viel mehr Änderungen an bereits bestehenden Artikeln vor. Dies stimmt mit der Vermutung der Autor:innen, dass registrierte Nutzer:innen ein größeres Interesse an einem guten Ruf und der Verpflichtung in der Gemeinschaft haben, überein (S. 296).

Die Untersuchungen ergaben ebenfalls, dass sich die meisten anonymen Nutzer:innen nur einmal beteiligen, was der Hypothese 5 entspricht. Darüber hinaus ergab sich, dass registrierte Nutzer:innen im Vergleich zu anonymen Nutzer:innen wesentlich mehr Inhalte pro Bearbeitung beitragen, was der Hypothese 4 der Autor:innen entspricht, dass anonyme Nutzer:innen kürzere Bearbeitungen vornehmen. Anonyme Nutzer:innen weisen jedoch im Vergleich zu registrierten Nutzer:innen eine signifikant höhere Zuverlässigkeit auf (S. 296).

Abschließend halten die Autor:innen fest, dass sich die Mitwirkenden an Wikipedia in ihren Interessen am Aufbau einer Reputation und eines Engagements in der Gemeinschaft unterscheiden. Leser:innen von Wikipedia interessieren sich jedoch in erster Linie für die Qualität der Inhalte, über die aber generell eine gewisse Unsicherheit herrscht, da sich die Leser:innen nicht auf einen möglichen bzw. potentiellen Qualitäts-Anspruch der Mitwirkenden verlassen können, wie es bei professionellen „Markenenzyklopädien“ der Fall ist (S. 301).

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